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1. September 1939
Das Trauma
Von Thorsten
Hinz
Am
70. Jahrestag des Kriegsausbruchs wird Kanzlerin Merkel sich zu einer
Gedenkveranstaltung in Danzig einfinden. Dort wird sie verbreiten, was sie eben
auf einer Vertriebenenveranstaltung sagte: daß die Vertreibung „unmittelbare
Folge deutscher Verbrechen“ war und es „kein Umdeuten der Geschichte“ gibt.
Zahlreiche deutsche Politiker,
Künstler, Historiker, Journalisten – keineswegs nur die üblichen Verdächtigen –
haben jetzt eine Erklärung veröffentlicht, wonach die Verantwortung für die
„Abermillionen Menschen, die dem Krieg zum Opfer fielen“, allein bei den
Deutschen liegt. Auch hätte es „ohne den von Deutschland begonnenen Zweiten
Weltkrieg weder die kommunistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa noch die
Teilung des Kontinents und Deutschlands gegeben“.
Die Titelseite der aktuellen
Spiegel-Ausgabe bringt die Geschichtsdeutung der politischen,
wissenschaftlichen, künstlerischen, publizistischen Elite des Landes schmissig
auf den Punkt: „Der Krieg der Deutschen. Als ein Volk die Welt überfiel“. Eine
kleine Auswahl von Stilblüten, aus der sich ergibt: Der deutsche Fisch stinkt
vom Kopf her – und wie!
Der deutsche Nationalstaat
stand stets vor der Existenzfrage
Gerd Schultze-Rohnhof und
Stefan Scheil haben nicht nur in dieser Zeitung dargelegt, wie unsinnig die These von
der deutschen Alleinschuld ist, in wie vielen internationalen Fallstricken sogar
Hitler gefangen war. In Deutschland bündelten sich nationalpolitische mit
europäischen und globalen Konflikten. Da war die bekannte Neigung der
europäischen Länder, sich gegen die stärkste Kontinentalmacht
zusammenzuschließen, um dessen Hegemonie zu verhindern. Seit 1871 war das
Deutschland. Reichsgründer Bismarck versuchte virtuos, schließlich verzweifelt,
dem Alptraum der Koalitionen („Cauchemar de coalitions“) Herr zu werden. 1914
waren seine Nachfolger damit am Ende.
Zweitens sah Alexis de
Tocqueville bereits 1835 voraus, daß Amerikaner und Russen „durch einen geheimen
Plan der Vorsehung dazu berufen“ schienen, eines Tages jeweils „die Geschicke
der Hälfte der Welt“ in den Händen zu halten. Das schloß die Teilung Europas
ein. Ein europäischer Block hätte diesen Plan gestört, womit Deutschland, das
diese Geschlossenheit am ehesten zustande bringen konnte, für die Supermächte in
spe der potentielle Hauptfeind war.
Karl Marx hielt schon 1860
Entwicklungen für denkbar, durch die „wir Deutsche (...) Ost- und Westpreußen,
Schlesien, Teile von Brandenburg und Sachsen, ganz Böhmen, Mähren und das übrige
Österreich außer Tirol (wovon ein Teil dem italienischen ‘Nationalitätsprinzip’
zufällt) und unsere nationale Existenz“ verlieren. Er prognostizierte eine
deutsche Zweiteilung und zwischen den sich „befehdenden Deutschlands“ einen
neuen Dreißigjährigen Krieg. Kurzum, der deutsche Nationalstaat stand, ganz
unabhängig von seinem inneren Regime, stets vor der Existenzfrage! Das dritte
Element war die Ideologisierung, die den Staatenkrieg intensivierte, vergiftete
und zum „Europäischen“, dann zum „Weltbürgerkrieg“ (Ernst Nolte) werden ließ.
Schon
die Niederlage von 1918
hatte das deutsche Selbstwertgefühl schwer erschüttert und Zweifel an der
Beständigkeit des Reiches genährt. Die Zustimmung, die Hitlers Außenpolitik in
der Bevölkerung zeitweilig fand, hing damit zusammen. Wenn der Nationalstaat
sich mit den Mitteln der Realpolitik nicht bewahren ließ, dann vielleicht durch
die Fähigkeiten des Schamanen?
Mit der totalen Niederlage war
1945 auch diese Frage beantwortet. Offenbar gab es keine Möglichkeit, ein
geeintes Deutschland und seine Interessen mit denen der anderen und mit den
großen Welttendenzen in Übereinstimmung zu bringen. Die Deutschen waren, mit dem
Wort Arnold Gehlens, „widerlegt“, so daß der nationalkonservative Historiker
Gerhard Ritter resigniert feststellte: „Irgend etwas muß doch wohl in unserem
politischen Leben von jeher verfehlt oder doch wenigstens gefährlich gewesen
sein, wenn wir so oft und jedesmal so gründlich in Abgründe und Katastrophen
hineingeraten sind.“ Und so forderte er die „totale Umstellung unseres deutschen
Geschichtsdenkens“.
Kollektivwahn, der kein
rationales Handeln erlaubt
Die Umstellung ist mit deutscher
Gründlichkeit erfolgt. Die oktroyierte
Akzeptanz der Alleinschuld hat sich zu
einer umfassenden Schuldmetaphysik gesteigert. Diese bildet heute das Mittel,
dem blutigen Fatalismus der eigenen Geschichte zu entgehen. Die Deutschen wollen
und müssen daran glauben, daß Teilung, Zerstörung und Verstümmelung des Landes,
die Gefallenen und Bombentoten eine angemessene Strafe für mutwillig begangene
eigene Verbrechen waren. Eine virtuelle, blitzartige Erkenntnis, daß ihnen, den
Besiegten des internationalen Bürgerkriegs, ihr Leid von keiner sittlichen
Instanz, sondern vom kalten Gesetz der Macht zudiktiert wurde, hätte ihren
moralischen Zusammenbruch zur Folge. Sogar das Gesindel, das alljährlich in
Dresden „Do it again, Bomber-Harris“ skandiert, muß daher als Strandgut des
Weltkriegs begriffen werden.
Aktuelle Versuche, neues
nationales Selbstbewußtsein zu demonstrieren, waren folgenlos, weil sie zu
diesen fatalen Voraussetzungen gar nicht vordrangen, geschweige denn sie außer
Kraft setzten. Als Kanzler Gerhard Schröder 2004 am „D-Day“, dem 60. Jahrestag
der alliierten Landung in der Normandie, die deutsche Gleichberechtigung
gegenüber den ehemaligen Kriegsgegnern vor Ort demonstrieren wollte, zementierte
er nur die deutsche Verwirrung, indem er seinen Auftritt damit einleitete, daß
er die Geschichtsmetaphysik und die darin enthaltene Zuschreibung der
Alleinschuld ausdrücklich annahm.
In Deutschland bildet ein
falsches Bewußtsein vom Zweiten Weltkrieg die Grundlage der politischen,
psychischen und physischen Existenz – und stellt sie zunehmend in Frage. Denn
aus kollektiver Verwirrung wird Kollektivwahn, der kein rationales Handeln
erlaubt. Am 1. September werden wir hören und sehen, in welchem
Krankheitsstadium wir uns befinden.
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weitere Informationen:
Zeitgeschichte im Ostdeutschen
Dioskussionsforum;
Der Kampf um die Westerplatte
- Am 1. September 1939 fielen die ersten Schüsse;
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