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Verdrängter Schrecken Kriegskinder leiden unter den Erlebnissen des Zweiten Weltkriegs noch heute weit stärker als bislang angenommen - und sie haben das unverarbeitete Trauma an die nächste Generation weiter gegeben. Dies belegt eine neue, noch unveröffentlichte Studie. "Sind sie krank?", hat ihn neulich seine Apothekerin gefragt. Da war er ausnahmsweise mal im Schritttempo an ihrem Schaufenster vorbei gebummelt und nicht gerannt, wie sonst immer. Tatsächlich ist Michael Ermann immer in Eile. "Ich warte immer bis zum letzten Augenblick", sagt der Leiter der Abteilung Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik München.
Seine Erklärung dafür: Die Kriegserlebnisse als Kind. Ermann, 1943 in Stettin geboren, stand schon im Kreißsaal unter Druck. Er musste schnell zur Welt kommen, weil der nächste Fliegeralarm drohte. Dass solche frühen Erlebnisse durchaus Folgen für das Seelenheil des Menschen haben können, hat Ermann nun in der bislang größten Studie zum Thema "Kriegskindheit" erforscht. Sein eigener verschrobener Umgang mit der Zeit hat sich dabei als eine der harmloseren Folgen herausgestellt. Der Schrecken kehrt zurück Ermanns Studie ergab, dass Kriegskinder heute weit häufiger unter psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden leiden als der Bevölkerungsdurchschnitt. Rund ein Viertel der von Ermann befragten Kriegskinder zeigte sich stark eingeschränkt in der psychosozialen Lebensqualität, jeder Zehnte war traumatisiert oder hatte deutliche traumatische Beschwerden. "Diese Menschen leiden unter wiederkehrenden, sich aufdrängenden Kriegserinnerungen, unter Angstzuständen, Depressionen und psychosomatischen Beschwerden", sagt Ermann, besonders häufig tauchten Krämpfe, Herzrasen und chronische Schmerzen auf. Die wenigsten Kriegskinder führen ihre Leiden allerdings auf ihre Erfahrungen im Krieg zurück. Ihnen schien das Erlebte normal, und sei es auch noch so grauenhaft gewesen. Zwar sei in den meisten Familien über den Krieg gesprochen worden, sagt Ermann, allerdings fast ausschließlich in ritualisierter Form, als Abenteuergeschichte oder witzige Anekdote. Die Kriegskinder fühlten sich fremd im eigenen Leben, haben ihr Schicksal nicht ernstgenommen. Selbst jene, die als Erwachsene in Psychotherapiesitzungen versuchten, ihre Vergangenheit zu bewältigen, haben die Kriegserlebnisse nicht thematisiert. "Viele haben den Krieg abgespeichert wie Wissen aus dem Geschichtsbuch. Die Gefühle dazu haben sie verdrängt", sagt Ermann. Inzwischen haben die Kriegskinder ihr unverarbeitetes Trauma an die eigenen Kinder weitergegeben. Die Kriegsenkel, wie Michael Ermann sie nennt, haben die Ängste ihrer Eltern sozusagen geerbt, leiden unter den Verlust- und Mangelerfahrungen, ohne den Krieg selbst erlebt zu haben. Sind etwa die Eltern als Kinder aus der Heimat vertrieben worden, fühlt sich zum Beispiel auch noch die Enkelgeneration heimatlos und entwurzelt. Der Begriff Vererben kann durchaus auch wörtlich genommen werden. Zuletzt sind Genforscher zunehmend auf Hinweise gestoßen, dass traumatische Erlebnisse auch das Erbgut dauerhaft verändern können. Das Leiden der Kriegsenkel Den Enkeln wird heute erst langsam klar, welche Auswirkungen die ihnen oft unbekannte Kriegskindheit ihrer Eltern auf ihr Leben hat. Bei Michael Ermann häufen sich die Anfragen der Kriegskindeskinder. Die Kriegsenkelin Anne-Ev Ustorf hat in ihrem Buch "Wir Kinder der Kriegskinder: Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs" zahlreiche Schicksale zusammengetragen. So erzählt in Ustorfs Buch eine 40 Jahre alte Sozialpädagogin, deren Eltern aus Ostpreußen stammen, dass das Thema Heimat sie seit Jahren nicht loslässt, dass sie nicht wisse, wo sie hingehöre. "Ich habe das Gefühl, niemals anzukommen." Von ihren mühsamen Versuchen, sich von dem extrem ausgeprägten Sicherheitsdenken ihrer Eltern zu emanzipieren, berichtet eine Künstlerin, deren Eltern aus Schlesien flohen. Dass das alles nun ausgerechnet 70 Jahre nach Kriegsbeginn erforscht und diskutiert wird, ist für den Psychoanalytiker Ermann nicht überraschend. "Die Kriegskinder sind heute in ein Alter gekommen, in dem sie die Vergangenheit gleich zweifach einholt." Zum einen liege das an neurophysiologischen Prozessen: Im Alter erinnern wir uns plötzlich wieder an Erlebnisse, die lange verschüttet waren. Zum anderen sei das Alter eine Lebensphase, in der alles, was jahrzehntelang Halt gegeben habe - die Familie, der Beruf - langsam wegbreche, sagt Ermann. "Und dann fällt auch die mentale Abwehr in sich zusammen." Wichtig sei es heute für Kriegskinder, über das eigene
Schicksal zu reden, sagt der Psychotherapeut. "Die Kriegskinder müssen lernen, sich
selbst und auch der nachfolgenden Enkelgeneration mehr Mitgefühl entgegenzubringen.
Dazu ist es nie zu spät." Ermann stellt erste Ergebnisse seiner Studie am 20. und
21. März auf einem Symposium an der Universität München vor.
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