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Geschichtsklitterungen noch 64 Jahre danach Den Zweite Weltkrieg, so wie ihn die Russen sehen, erlebten deutsche Bundeswehrsoldaten mitten in Berlin. Widersprüche waren unerwünscht. Ein Erlebnisbericht: Ich bin seit etwa zwei Jahren Leser Ihrer Zeitung, die, wie ich finde, eine wohltuend andere Sicht auf bestimmte Problematiken aus Politik und Zeitgeschichte bietet. Aus diesem Grund fühle ich mich animiert, von einem Erlebnis zu berichten, das ich vor einigen Wochen hatte. Kurz zu meiner Person: Ich bin 20 Jahre alt und durchlaufe zurzeit meine Ausbildung zum Offiziersanwärter der Bundeswehrschule des Heeres in Dresden. Im Rahmen dieser Ausbildung fand vor etwa einem Monat eine sogenannte Ausbildungsreise statt, die uns für drei Tage nach Berlin führte. Bei dieser Ausbildungsreise ging es darum, uns Offiziersanwärtern das „Bild des Offiziers“ zu vermitteln, weshalb wir einige Sehenswürdigkeiten und Gedenkstätten aufsuchten, die politische beziehungsweise geschichtliche Relevanz haben. Unter anderem besuchten wir das Deutsch-Russische
Museum in Berlin-Karlshorst. In diesem Museum, welches bis 1990 von der
Sowjetunion beziehungsweise deren Nachfolgestaat finanziert wurde, geht es
darum, an die dort unterschriebene Kapitulation vom 8. (beziehungsweise 9. nach
russischer Sicht) Mai 1945 zu erinnern. Als wir am Museum eintrafen, teilten unsere Ausbilder uns hörsaalweise einer der Damen zu, die uns durch das Museum führen sollten. Wir hatten es mit einer jungen Dame zu tun, die ich auf zwischen 25 und 28 Jahre schätzte. Auf jeden Fall war diese junge Frau Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Sie wirkte sehr nervös angesichts unserer Uniformen, denn wir waren zusammen mit unserem Ausbilder, einem Offizier im Range eines Oberstleutnants, 23 Mann. Nach den ersten Sätzen, die sie gesprochen hatte, wurde uns klar, warum die junge Dame vielleicht so aufgeregt war, denn es handelte sich um eine russische Studentin, die allerdings hervorragend Deutsch sprach. Schon in den ersten Räumen des Museums fiel uns auf, dass die Ausstellung sehr einseitig aufgebaut war und das Thema Kapitulation und die Entwicklung bis zum und während des Krieges an der Ostfront fast ausschließlich aus sowjetischer / russischer Sicht darstellte. Es fiel kaum ein Wort über die deutsch-russische Zusammenarbeit während der 30er Jahre und auch kaum ein Wort zum geheimen Zusatzprotokoll beim deutsch-russischen Nichtangriffspakt aus dem Jahre 1939. Mein Ausbilder, der sehr gradlinig und historisch gebildet ist, zeigte schon Anzeichen von Unmut ob der Einseitigkeit, ließ aber zunächst alles von unserer jungen Führerin Gesagte unkommentiert im Raume stehen. Als die Führung zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion kam, behauptete die uns begleitende junge Dame, dass die Bevölkerung und die Armee der UdSSR auf den deutschen Angriff völlig unvorbereitet gewesen und als friedliebende Nation überfallen worden seien. Hier erhob unser Oberstleutnant nun doch seine Stimme und konfrontierte die Dame mit einigen Fakten, wie den immensen Gefangenenzahlen aus den großen Kesselschlachten des Sommers und Herbstes 1941 oder dem Inhalt von V. Suworows Buch „Der Eisbrecher“, aus dem hervorgeht, dass Stalin seinerseits den Angriff für das Jahr 1942 geplant hatte und die Rote Armee nur deshalb solche immensen Verluste erlitten habe, weil ihr Offizierskorps sich 1941 von den durch Stalin durchgeführten Säuberungen noch nicht erholt hatte. Sichtlich irritiert antwortete unsere Führerin, dass eine solche Sichtweise davon abhänge, welche Bücher man lese. In einer weiteren Abteilung wurde das Thema Kriegsgefangene behandelt, welches auf zwei Räume aufgeteilt war. Auf die Frage eines meiner Kameraden, warum denn die deutschen Kriegsgefangenen nicht genauso ausführlich wie die sowjetischen dargestellt und kommentiert würden, erhielt er zur Antwort, dass es sich bei den deutschen Kriegsgefangenen doch um abgeurteilte Kriegsverbrecher gehandelt habe, die von russischen Gerichten nach dem Krieg zu 25 und mehr Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden waren – zudem seien doch die meisten schon nach etwa zehn Jahren freigelassen worden, obschon sie für die Beseitigung der von ihnen angerichteten Schäden noch dringend benötigt worden wären. Hier meldete sich unser Oberstleutnant wieder zu Wort und wies die Dame darauf hin, dass diese Prozesse vor russischen Gerichten doch Schauprozesse gewesen seien, bei denen das Urteil von vornherein festgestanden habe, egal ob nun ein General vor Gericht stand oder ein vielleicht 19-jähriger Soldat, der in den letzten Tagen des Krieges als Melder eingesetzt worden war. Zudem sei es keineswegs die von der jungen Dame angedeutete „Großzügigkeit“ der Sowjetunion gewesen, die deren Führung Anfang der 50er Jahre dazu bewegt hatte, die deutschen Kriegsgefangenen freizulassen, sondern vielmehr das Anliegen, damit die Wiederbewaffnung und den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Nato zu verhindern. Die Dame sagte darauf nichts, sondern mahnte zur Eile, da durch die Fragen die Zeit davonlaufen würde. Es kam dann zum „großen Finale“ im doppelten
Sinne. In den letzten Räumen vor dem großen Saal, in dem 1945 die Kapitulation
unterzeichnet worden war, wurde der Abschnitt des Einmarsches der Roten Armee
nach Deutschland ab dem Januar 1945 behandelt. Hier wurde uns erklärt, dass die
sowjetischen Soldaten voller Hass und Rachedurst waren, als sie das Territorium
des Feindes betraten (jeder von uns konnte das nachempfinden) und es sei auch,
um gleich Fragen unsererseits zuvorzukommen, zu Vergewaltigungen durch einzelne
russische Soldaten gekommen, die man aber als Übergriffe von Einzelpersonen
einstufen müsse. Jetzt regte sich auch bei meinen Kameraden lauter Unmut und
einige erwähnten dann die Erzählungen, die sie von ihren Großeltern, besonders
von ihren Großmüttern, über die Zeit der Flucht vor der Roten Armee im Jahre
1945 gehört hatten, und konfrontierten unsere Führerin mit Aussagen darüber,
dass russische Tiefflieger Flüchtlingstrecks beschossen und bombardiert hatten,
dass russische Panzer Trecks überrollt hatten und dass das Eis der Ostsee so
bombardiert worden war, dass die Trecks, die dadurch nicht mehr weiterziehen
konnten, leichter von den vorstoßenden Kräften der Roten Armee eingeholt werden
konnten.
Die junge Dame antwortete darauf, dass dies ja subjektiv geprägte Einzelerlebnisse seien, die man nicht zur Verallgemeinerung heranziehen könnte. Jetzt meldete sich wieder unser Oberstleutnant zu Wort, der die junge Dame mit den Schriften eines Ilja Ehrenburg, der den Aufruf an die russischen Soldaten „Tötet die Deutschen“ verfasst hatte, konfrontierte. Er wies darauf hin, dass die massenhafte Vergewaltigung von Frauen befohlen worden war und die Fälle von Vergewaltigungen in die Zigtausende gingen. Später musste sogar von der sowjetischen Militäradministration in der SBZ ein Erlass herausgegeben werden, der es Frauen, die durch diese Vergewaltigungen schwanger geworden waren, erlaubte, abzutreiben. Nunmehr verbal und argumentativ in die Ecke gedrängt äußerte die junge Dame Folgendes, was ich wörtlich wiedergeben möchte: „Nachdem, was Ihr uns angetan habt, kann man doch wohl wegen dieser Vorfälle angesichts von 60 Millionen Toten nicht von deutschem Leid sprechen.“ Bei dem Wort „Ihr“ zeigte sie auf uns, Soldaten Anfang 20 in der Uniform der Bundeswehr, und bei dem Wort „uns“ legte sie beide Hände auf die Brust, womit die Rollen für sie 64 Jahre nach Ende des Krieges und 20 Jahre nach der Wende – klar verteilt waren. Unser Oberstleutnant war klug genug, kühlen Kopf zu bewahren und die Emotionen zu dämpfen. Er erklärte, dass es auf keinen Fall darum ginge, Unrecht und Leid gegeneinander aufzurechnen, was geschehen sei, sei schlimm genug und würde sich hoffentlich nie wiederholen. Er äußerte sich jedoch enttäuscht darüber, dass an einem Ort wie diesem nicht objektiv dokumentiert und kommentiert würde und der Gedanke der Versöhnung, zumindest bei den jüngeren Generationen, nicht im Vordergrund stehen würde. Charmant beendete er mit der jungen Dame zusammen kurz darauf die Führung und dankte für die interessanten Informationen, die man erhalten hatte. Ich hätte eine solche Veranstaltung 64 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und 20 Jahre nach der Wende und der Wiedervereinigung nicht für möglich gehalten, noch dazu von einem Menschen, der wenig älter ist als ich selbst und der den Krieg selbst nicht miterleben musste. Noch mehr aber hat mich der Mut und die Geradlinigkeit meines Ausbilders, des Oberleutnants beeindruckt, der aufrecht und unerschrocken Missdeutungen des Zeitgeistes oder ideologisch gefärbten Interpretationen entgegengetreten ist und nicht „weggeschaut“ hat, als es darum ging, historisch Inkorrektes zu korrigieren. Ich bin froh darüber, dass die Bundeswehr noch Ausbilder von solchem Format hat, die uns Offiziersanwärtern als Vorbild dienen können. Um meine Schilderungen abzuschließen, sei noch erwähnt, dass diese Geradlinigkeit allerdings dazu geführt hat, dass irgendjemand aus den Reihen der Offiziersanwärter eine Eingabe an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages gemacht hat, in der er diesen Ausbilder ob seines Verhaltens kritisierte. Aus diesem Grund möchte ich Sie auch darum bitten, falls Sie meine Schilderungen veröffentlichen, meinen Namen nicht zu nennen, denn freie Meinungsäußerung gilt anscheinend nicht bei allen Themen in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, auf deren Boden wir alle stehen. Name und Anschrift des Autors sind der Redaktion
bekannt.
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