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Schicksalsjahre und das Recht zu trauern
von Klaus Rainer Röhl

Auschwitz-Tag ist immer. Der Prozess gegen „die Deutschen“ findet täglich statt. Hitlers Verbrechen – ihre unschuldigen Opfer sind in Wort und Bild, im Fernsehen und Internet stets abrufbar, werden bei so gut wie jeder Polit-Talkshow mindestens einmal angesprochen. Die Opfer sind unschuldig. Die Frage, ob auch Deutsche unschuldige Opfer des Zweiten Weltkriegs und der zwei Diktaturen – Hitlers und Stalins – waren, wird selten in der Öffentlichkeit gestellt. 50 Jahre lang fast nichts. Dann erscheinen im deutschen Fernsehen Filme von Guido Knopp über die deutschen Opfer, Dokumentationen, ergänzt durch Wochenschau-Aufnahmen und Interviews mit Opfern, sogar über Gewaltakte, besonders die monatelangen, massenhaften Vergewaltigungen fast aller deutschen Frauen und Kinder durch die Soldaten der Roten Armee und ihre Verbündeten, Polen und Tschechen. Die Filme wurden von Millionen Überlebenden gesehen – mit fast ungläubigem Erstaunen: Ist das denn erlaubt? Immer sind alle diese Filme mit einem Hinweis versehen: Hitlers Schuld am Krieg!

Doch die erstmals im großen Rahmen Erwähnung und Beachtung findenden Überlebenden nehmen den Hinweis ernst. Opferzahlen, Augenzeugenschilderungen, Berichte von vergewaltigten Frauen und Mädchen. Ein Mahnmal für die toten Vertriebenen, eine Gedenkstätte, ja eine ständige Ausstellung wird vom Bund der Vertriebenen und ihrer Vorsitzenden Erika Steinbach gefordert und von der Union für den Fall eines Wahlsieges zugesagt – bis Frau Steinbach in einer beispiellosen Pressekampagne aus dem von ihr selbst geschaffenen „Zentrum gegen Vertreibungen“ herausgedrängt wird. Sie geht freiwillig, um die Gedenkstätte zu retten. Ein Plan, der durch zahllose Vorbehalte so aufgeweicht und relativiert wird, dass sich sein Ziel, das Gedenken an die deutschen Opfer vor lauter Vorbehalten, Einschränkungen und Rückziehern fast ganz in Luft und Nebel aufzulösen schien.

Doch wie heißt es in der Bibel? Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. Schreibt unser Bundespräsident – in der „Bild“-Zeitung. Und wenn der Präsident in der auflagenstärksten Zeitung des Landes mit zirka elf Millionen Lesern uns allen mit bewegten Worten einen Fernsehfilm des ZDF ans Herz legt, dann muss das einen besonderen Grund haben. Es ist der Film „Schicksalsjahre“ mit Maria Furtwängler. Und unser Präsident Christian Wulff schreibt dazu: „Unmittelbar nach dem Krieg ging es darum, mit einer jungen Demokratie unser zerstörtes Land wieder aufzubauen. Seit den 60er Jahren wurde immer stärker nach den nationalsozialistischen Tätern und ihren Opfern gefragt. Manch einer hat darüber die Leiden der eigenen Eltern nicht ausreichend wahrgenommen.“ Das ist ein Wort.

Schon vor zwei Jahren lief zur besten Sendezeit im ZDF ein anrührender Film, „Kinder des Sturms“. Er schilderte die Schicksale deutscher Kinder, die nach 1945 durch Vertreibung aus ihrer schlesischen Heimat ihre Eltern verloren hatten, und die beharrliche, unbeirrbare Suche einer Mutter nach ihrem Kind. Wir alle haben diesen Film gesehen und geliebt und waren erschüttert über das Schreckliche, das noch lange nach der Kapitulation über die Deutschen hereinbrach, bei der Vertreibung von 15 Millionen unserer Landsleute aus ihrer Heimat. Doch bevor wir diesen gut gemachten Film des Regisseurs Miguel Alexandre sehen durften, flimmerte ein Vorspann mit dem Hinweis über den Bildschirm, diese Verbrechen seien ja schließlich die Folge des von Hitler begonnenen Krieges …

Irgendwie wirkte dieser Vorspann, den wir ja aus allen Filmen von Guido Knopp, den Filmen über die Torpedierung der „Wilhelm Gustloff“, die Bombardierung von Dresden und die Berichte deutscher Frauen von den Massenvergewaltigungen durch die Russen gewohnt sind, diesmal besonders weit hergeholt. Wie ein routinemäßiger Vorspann, der offenbar jedem Film und jedem Buch über deutsche Opfer vorangestellt werden muss wie der Aufdruck „Rauchen kann tödlich sein!“ auf jeder Zigarettenschachtel. Was sollen diese Hinweise bewirken?

Sollen da etwa Verbrechen gegen Verbrechen aufgerechnet werden? Ist das nicht genau das, was den Vertriebenen immer wieder vorgeworfen wird: Aufrechnung? Halten wir fest: Die Ermordung von Millionen Deutscher aus dem Osten während der Flucht und der anschließenden Vertreibung, die Vergewaltigung von Millionen deutscher Mädchen und Frauen waren Kriegsverbrechen, für die es bis heute keine Anklage und keine Sühne gibt, nicht einmal eine Akte beim Haager Kriegsverbrecher-Tribunal. Einmal muss Schluss sein mit der Relativierung dieser Verbrechen durch den Hinweis auf Hitlers Krieg und die Verbrechen, die Deutsche während des Krieges begangen haben. Halten wir fest: Die Opfer waren alle unschuldig. Die Trauer um die Ermordeten, Verstümmelten und Geschändeten ist unteilbar, das gilt für alle Opfer, für Deutsche wie Juden, Palästinenser und Israelis, Türken und Armenier.

Heute reden wir einmal von unseren Opfern: 2.167.000 Menschen verloren durch Flucht und Vertreibung ihr Leben. Fast alle waren Frauen, Kinder und Greise. Ebenso wie die Deportation und Ermordung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten ist die Vertreibung der Deutschen und die Ermordung von Millionen dieser Flüchtlinge ein einmaliges Ereignis in der neueren Geschichte, das jede bisher gekannte geschichtliche Dimension sprengt. Dürfen aber die deutschen Opfer der Kriegsverbrechen nach einem anderen Maßstab beurteilt werden?

Anscheinend hat auch der Bundespräsident Wulff nun erkannt, dass die Geduld der überlebenden Opfer mit den Medien ein Ende hat. So schreibt er: „Ich hoffe, dass gerade junge Menschen durch diesen Film die Geschichte unseres Landes besser begreifen. Ich hoffe, dass der Film ,Schicksalsjahre‘ für viele noch rechtzeitig kommt!“

Alles hat seine Stunde: Am 10. Februar stellen die Regierungsfraktionen in Berlin den Antrag, von diesem Jahr an den 5. August zum Gedenktag für die Opfer der Vertreibung zu erklären. An diesem Tag wurde 1950 in unserer jungen Demokratie die Charta der Heimatvertriebenen von den Delegierten verabschiedet. Für jedes Geschehen gibt es seine Zeit. Der Gedenktag könnte beschlossen werden und der Bundespräsident würde dann die Schritte zu seiner Einrichtung einleiten. Auch wenn Thierse und die gesamte Linke bereits heute Zeter und Mordio schreien.

Nun ist es Zeit, Zeit, die Aufrechnungen und Relativierungen zu beenden. Es geht um Opfer, unabhängig von ihrer Sprache und Nation. Ich fühle mich nicht schuldig im Sinne der Warnhinweise. Mein Großvater, der keinem Menschen ein Leid zugefügt hat, wurde 1889 geboren, mein Vater 1903. Beide haben Hitler nicht gewählt. Ich bin im letzten Jahr 82 geworden. Mein jüngstes Enkelkind ist vier Jahre alt. Soll es auch noch zum Volk der Täter gerechnet werden?

Klaus Rainer Röhls Buch „Verbotene Trauer“, mit einem Vorwort von Erika Steinbach über Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat und den Bombenkrieg gegen die deutschen Städte, erschien 2002 im Universitas Verlag und erlebte drei Auflagen – eine Neuauflage erscheint in diesem Sommer.

Quelle:
Preußische Allgemeine Zeitung / Das Ostpreußenblatt Ausgabe 08 / 26.02.2011

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