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Göttinnen und Götter
von Beate Szillis-Kappelhoff
Die ältere Religionsschicht war weiblich und
wurde später von einer männlichen überlagert. Man muss sich das etwa wie zwei
Dreiecke vorstellen, die Spitzen oben.
An der weiblichen Spitze stand Saule, die Sonne.
Sie war die Mutter allen Lebens und gab Licht, Wärme und Nahrung. Ihre Töchter
entsprachen den damals bekannten Planeten: Waikora (Merkur), Auschrine (Venus,
Morgen- und Abendstern), Zhemyna (Erde), Zhiezdre (Mars), Selija (Saturn) und
Indraja (Jupiter).
Für uns Erdenkinder war natürlich Zhemina die
wichtigste aller Göttinnen und wurde auch zärtlich Zheminele genannt:
Erdmütterchen. Sie wird als Widder dargestellt, und ihr Tier ist die erdnah
lebende Schlange.
Wichtige Feste waren jeweils die Sonnenwenden,
besonders die Sommer-Sonnenwende. An diesen Tagen nahm sich Saule Urlaub um mit
ihren Töchtern zu tanzen. Wir Erdenkinder als ihre Enkel feierten
selbstverständlich mit, entzündeten Freudenfeuer, tanzten, lachten, sangen und
tranken ihr zu Ehren bis tief in die Nacht. Je weiter das Jahr fortschritt,
desto schwächer wurde Saule. Sie verlor ihre Leucht- und Wärmekraft und konnte
kaum noch Nahrung geben. Deshalb halfen ihr alle Erdenkinder in der dunkelsten
Zeit, indem sie Kerzen anzündeten. Und diese Unterstützung bewirkte tatsächlich,
dass sie von Tag zu Tag heller wurde und ihre Kraft zurück gewann.
Zhemina konnte jedoch nicht für alles auf Erden
zuständig sein, weshalb eine große Schar Göttinnen ihr zur Seite standen. Jede
davon hatte ihren eigenen Zuständigkeitsbereich, den sie zu schützen hatte.
Laima war für das Glück verantwortlich, Giltine war die hilfreiche und
freundliche Sterbegöttin, Austeja umsorgte die Bienen, Dekla die Gebärenden und
Ligo war für die Fröhlichkeit zuständig. Daneben gab es noch viele Gottheiten,
auch böse, die den Pferden die Mähnen verknoteten, den Kühen die Milch versiegen
ließen und die für die Missbildungen bei Kindern verantwortlich waren.
Die Spitze der späteren männlichen Götterschicht
führte Deiws an. Er wurde auch Dewus oder Okkopirmus, der Allerhöchste, genannt.
Er ist der Gott des leuchtenden Himmels, der Beschützer geschlossener Verträge
sowie des Friedens, der Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Freundschaft. Für die
Menschen war es undenkbar, ihn direkt anzurufen oder gar mit ihm zu hadern: "Mit
Dewus läßt sich nicht rechten", denn seine Entscheidungen sind in Stein
geschrieben, und es gibt keine Flucht davor. So symbolisiert er das Gestern, das
Heute und das Morgen. Im Zuge der Christianisierung verschmolz er mit dem
Christengott.
Ihm unterstellt waren die drei Hauptgötter
Perkunas, Potrimpos und Patolos. Perkunas ist der Gott des Donners, des Zornes,
aber auch Befruchter und Reiniger der Erde, der sich von einem Ziegenbock über
den himmlischen Steinhügel ziehen lässt. Er wird als Ziegenbock dargestellt und
ist der Gatte der Zhemina. Potrimpos ist der rosige, dicke und lachende Gott des
Glücks, der Fruchtbarkeit, des Wohlstands, der Saat und des Frühlings. Patolos
sieht blass und eingefallen aus, aber durchaus freundlich, denn er ist der
helfende Gott des Sterbens. Unter christlichem Einfluss verlor er seine guten
Eigenschaften: Tod wurde mit Hölle und Teufel in Verbindung gebracht, und sein
Name wurde in Pikollos geändert, aus dem slawischen Wort "piculs", böse, so dass
er zum Gott der Unterwelt mutierte.
Die Basis dieses Dreiecks bevölkern wieder sehr
viele Götter und Gottheiten, jeder wieder mit eigenem Zuständgkeitsbereich:
Kurke sorgt für die Ernte, sein Helfer ist Zhembaris, der aufpasst, dass der
Bauer sorgsam mit der Erdkrume umgeht; Raugupatis hütet das Brotbacken und Gären
des Bieres; Upints Dewus hält die Flüsse und Bäche rein und bestraft alle
Verunreiniger mit einem geringeren Fischfang; Jagubis (früher die Göttin
Gabjauija) war äußerst wichtig während der Darre (Trocknung) des Getreides,
damit kein Feuer ausbrach.
In der Naturreligion stand keinesfalls der Mensch
im Vordergrund sondern war eingeordnet in die Gesamtwelt. So brauchte diese
Religion auch kein Drohen mit Teufel und Hölle, denn der Mensch wusste sehr
genau, dass die Natur, respektive die sie fallweise vertretenden Göttinnen und
Götter, selbst sehr direkt und mitunter hart straft. So war es für den Menschen
das Beste, die Regeln der Natur genauestens zu beobachten, zu respektieren, zu
verehren und sich an den Wundern zu erfreuen.
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