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Deutsche Identität

 


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Hermann Sudermann


Gedenkschrift - 70 Jahre LO-NRW

70 Jahre LO Landesgr. NRW
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Die Kultur der deutschen Ostgebiete als Teil deutscher Identität
Zwischen Immanuel Kant und Gerhart Hauptmann
von Harald Seubert (*)

Ohne Herkunft kann es keine Zukunft geben, ohne gegründete Identität kein verantwortliches politisches Handeln. Wesentliche Wurzeln der deutschen Identität liegen indes im deutschen Osten. Weder Vertreibung noch gewalttätiges Auslöschen der Spuren jener Prägung nach 1945 und auch nicht eine Politik, die sich wurzellos und bußfertig ihre Erbes entledigt, können diese Binde- und Verpflichtungskraft langfristig auslöschen.

Seine Erinnerung und Pflege sollte ein wesentlicher deutscher Beitrag für das sich einende Europa sein, das nur dann bestehen und reüssieren wird, wenn es aus seiner eigenen Überlieferung lebt. Die lebendige Kulturerinnerung ist daher keineswegs rückwärtsgewandt oder nur bewahrend antiquarisch. Der deutsche Osten ist ein nicht versiegendes, bewundernswert reichhaltiges Schatzhaus in Dichtung, Philosophie und Kunst, aus dem gelingendes Leben des einzelnen und der Nation bis heute schöpfen kann. Die „Tag für Tag zu erneuernde und zu bestätigende Einheit der Kultur“ ist, mit einem Wort von Hellmut Diwald, Unterpfand der Einheit unseres Volkes und damit auch des europäischen Hauses. In einer entwurzelten globalen Welt, angesichts einer in den Katastrophen und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und den sie begleitenden Zerstörungen des Vergangenen immer weitergehend beschleunigten Untergrabung der Wurzeln von Kultur und Lebensform ist es besonders wichtig, daran zu erinnern, dass geprägte Kulturlandschaften wie der deutsche Osten an den großartigen Werken, die aus ihnen hervorgingen, mitschreiben, mitkomponieren und bauen und dass sie umgekehrt durch solche Werke in ihrer Physiognomie als Kulturlandschaften nach und nach ihre Form gewannen, im Sinn der Herkunft des Wortes ‚Kultur’ von lateinisch ‚colere’: pflegen. Ohne den Habitus von geprägten Landschaften, Städten, Kathedralen, Bauten, Bildern wird sich auch die innere Gesittung, die Bildung der Seele (‚cultura animi’) kaum ausprägen. Die Idiome der Herkunft gehen in Wort- und Tonfügungen ein; die schlichte Volksweisheit, dass man das Dichter-Wort nur verstehen könne, wenn man in seine Landschaft reist, behält eine tiefe Wahrheit. Bereits Platon lehrte in seinem Spätdialog ‚Die Gesetze’ (‚Nomoi’), dass die Städte und die Musik die ersten Lehrer der nachwachsenden Generationen seien.

Deutschland als ‚Kulturstaat’ in der Vielzahl seiner Stämme, von der in der Präambel der Weimarer Verfassung noch die Rede war, ist ohne seinen Osten nicht denkbar; ebenso wenig ist es Europa, das seit seinen Anfängen nicht territorial, sondern kulturell, als eine Form der Einsicht und Besinnung von seiner Gegenküste Asiens abzugrenzen war. 

Der Historiker Hartmut Boockmann hat vor mehr als zehn Jahren eine in zehn Bänden bei Siedler erschienene ‚Deutsche Geschichte im Osten Europas’ initiiert, die im einzelnen jene Quellen nationaler Identität, von Ost- und Westpreußen, über Pommern, Schlesien, Böhmen und Mähren nach Südosteuropa (die Landschaft zwischen Adria und den Karawanken), das Land an der Donau bis hin nach Galizien, in die Bukowina- und Moldauregion, einschließlich der Vielfalt deutschen Lebens in Rußland in teils faszinierenden Beiträgen durchmisst.

An den Verwirrungen in der Selbstverständigung der Deutschen änderte dieses historiographische Fanal wenig. Die in der Bonner Republik geläufige Rede vom Verfassungspatriotismus deutete an, dass bestenfalls die Zugehörigkeit zu der von Amerika dominierten westlichen Welt, nicht aber die Ressourcen eigener Geschichte zum Kanon der Selbstdefinition zugelassen werden sollen. Es scheint überaus fragwürdig, ob diese Einschränkung für die Zukunft ausreichen kann. Eine Debatte über Patriotismus und Wurzeln deutscher Identität fand indes auch von Berlin aus nicht statt

Eine ortlose, auf Tabuierungen errichtete Identität kann es aber nicht geben, und ebenso wenig kann Identität konstruiert oder verordnet werden, wenn sie tragfähig sein soll. Wer sich aber seiner selbst nicht gewiss ist, als Bürger und als Mensch, wird zum Opfer von Manipulation und Gewalt werden. Der Reichtum deutscher Geschichte ist unerlässlich dafür, dass die Nation ihren Weltort nach außen und ihren Frieden im Inneren findet. Politisch festgeschriebene Grenzen können ungleich ältere und tiefere Prägungen nicht durchtrennen: dies ist mehr als Grund genug, an einigen wenigen, zentralen Strebepfeilern an den Reichtum und die Verpflichtung der geistigen Landschaft des deutschen Ostens zu erinnern.

I.

Untrennbar ist die Entwicklung von Kants Philosophie von seiner Heimatstadt Königsberg, die, wie er selbst sagte, der Ausbildung von Gesittung und Humanität ein förderlicher Ort sei: hier lehrte er über Jahrzehnte und führte sein gastliches Haus. Diesen Ort wollte er, trotz verschiedener verlockender Angebote nicht verlassen. Und er konnte bemerken, dass der ‚sensus communis’, der verlangt, sich jederzeit an die Stelle eines anderen setzen zu können, durch die Stadt am Pregel besonders begünstigt würde. Der Biograph Kurt Stavenhagen hat im Jahr 1949 zutreffend festgehalten, das Gedächtnis an Kant schließe „immer auch die Liebe zu Königsberg ein. Nie werden wir diese Stadt vergessen. Denn in ihr und durch sie ist Kant geworden, was er als Mensch und Denker war. An ihr hat er mit allen Fasern seines Herzens gehangen“.

Kants epochales Denken, das die europäische Philosophiegeschichte prägte wie kaum ein anderes, behält bis heute eine hohe Aktualität. Das Hauptwerk seiner theoretischen Philosophie, seine ‚Kritik der reinen Vernunft’ hatte Kant als einen ‚Tractatus’ im Sinn eines Friedensvertrags und eines ‚Gesetzbuchs’ begriffen. Es gibt eine Orientierung darüber vor, auf welche Weise sicher geurteilt, also ‚gedacht’, werden kann. Dabei zeigt er, dass es eine nicht von Erfahrung abhängige Erkenntnis gibt, welche die Kategorien hervorbringt, unter der die Welt der Erscheinungen geordnet werden kann. Nur über sie ist klare und gewisse Erkenntnis möglich. Dieses ‚Land’ ist freilich nur schmal bemessen, eine Insel im brandenden Ozean.

Mit seiner Grenzziehung hat Kant also die Existenz einer Welt jenseits der Erfahrung begründet. Diese ist allerdings nicht nach den Kategorien zu erkennen, die sich nur auf Gegenstände in Raum und Zeit beziehen können. Das Ansinnen, leugnend oder bejahend über ihre Ideen, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele zu urteilen, wäre wie ein Flug im luftleeren Raum. Kant hat jedoch festgehalten, dass der klar urteilende Verstand und die durch ihn geordnete Erfahrungswelt den ‚Prinzipien der Vernunft’ unterstehen, „worunter alle Erfahrung gehört, welche selbst aber niemals ein Gegenstand der Erfahrung ist“. Als Krönung der geistigen Welt entwickelte Kant deshalb einen philosophischen Gottesbegriff: wobei er Gott, den Anfang der Welt, als „das Urbild aller Dinge“ zu verstehen gibt, „welche insgesamt, als mangelhafte Kopien den Stoff zu ihrer Möglichkeit daher nehmen, und, indem sie demselben mehr oder weniger nahe kommen, dennoch jederzeit unendlich weit daran fehlen, es zu erreichen“.

Von nicht minder offensichtlicher Bedeutung für die Gegenwart ist die Kantische praktische Philosophie – seine Antwort auf die Frage: ‚Was sollen wir tun?’. Kant verbindet darin konsequent den Aufweis des einen apodiktischen und ausnahmslos geltenden Moralprinzips und die tiefe Überzeugung, dass dieses eins sei mit dem, was die einfache, unverbildete sittliche Menschenvernunft, oftmals ohne es formulieren zu können, wie selbstverständlich tut, worin sie ihre Pflicht erkennt und wonach sie sich immer orientiert. Die Philosophie hat daher keine andere Aufgabe, als der Menschenvernunft Klarheit über sich selbst zu verschaffen. Und dies führt zu der unzweideutigen Unterscheidung zwischen der im Kategorischen Imperativ begründeten Moral einerseits und einer Ausrichtung eigener Maximen nach Maßgabe der Selbstliebe. Ein drittes gibt es nicht.  Die Kantische Differenzierung bleibt bis heute fundamental. Man kann und sollte sie ethischem Taktieren in Expertengremien entgegenhalten. Auch Max Webers Distinktion von Gesinnungs- und Verantwortungsethik wird von ihr ihrerseits überwölbt. Denn weder der Gesinnungs- noch der Verantwortungsethiker ist aus der Frage zu entlassen, ob sein Tun oder Unterlassen auf die Moral begründet ist.

Kant zeigt auch, dass Freiheit und Autonomie nur aus der Verpflichtung auf das Sittengesetz heraus zu begreifen sind. Weder das rationalistische Kalkül, noch Gefühl oder Erfahrung können Pflicht begründen. Es kann nicht Vorrang haben, nach dem eigenen Glück zu streben, so wie es in der heute allgegenwärtigen Tendenz zur Selbstverwirklichung der Fall ist. Vielmehr ist Glückseligkeit an Glückswürdigkeit gebunden. Der Grundformel des Kategorischen Imperativs: ‚Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, stellt Kant die erste Nebenformel an die Seite, durch welche die Bindekraft, der keine Ausnahmen zulassende Verpflichtungscharakter, verankert wird: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden könne“ . In einer zweiten Nebenformel fügt Kant dem allerdings ein weiteres Gebot hinzu, das den Menschen auf seine eigene (und jedes anderen) Humanität verpflichtet. „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals nur als Mittel brauchest“. Das Echo jener Humanität kann man kunstvoll und anrührend aus der klassischen deutschen Dichtung vernehmen, vor allem aus Schillers Balladen wie der ‚Bürgschaft’. Humanität bezieht sich immer gleichermaßen auf die eigene Person und auf die Menschheit eines jeden anderen. Deshalb ist der Mensch ‚Zweck an sich selbst’, was als Nachhall seiner Gottebenbildlichkeit verstanden werden muss. Er darf daher in keiner Weise der Abschätzung oder Abwägung unterworfen werden.  Ihm kommt nicht ein Wert oder Preis zu, sondern allein unabdingbare Würde.

Hier ist Kants Gedanke vom ‚Reich der Zwecke’ verankert. Dieses umschließt die Menschheit als ein Ganzes der sittlichen Verpflichtung, das auch das Gedächtnis an die Toten mit umfasst.

Daran schließt sich ‚unabdingbar’ und ‚mit Notwendigkeit’, wie Kant sagt, der Übergang von der Moral zur Religion an, die Frage: Was darf ich hoffen? Kant wusste wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen um die Verderbtheit menschlicher Natur. Er sagt es mit dem Wort des Predigers aus dem Alten Testament: Des Menschen Herz ist böse von Jugend auf, und mit Horaz: „Ohne Laster wird niemand geboren“ („Vitiis nemo sine nascitur“); was zwar nicht heißt, dass eine angreifende, aggressive Bosheit dem Menschen eigen wäre. Sie ist seltener als man meint, wohl aber, dass die Wurzel der Maximen (radix) immer wieder verkehrt und von der Sittlichkeit abgelenkt wird.

Um der Bindekraft der reinen praktischen Vernunft willen ist deshalb die „Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen“ unumgänglich, der als ‚inwendiger Lehrer’ das Gewissen wach hält. In seinem Willen ist „dasjenige Endzweck der Weltschöpfung [...], was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll“. Erhoffen dürfen wir Gott als Lenker einer Welt, die der reinen sittlichen Handlung gemäß ist.

Erst in seinen letzten Jahren und unter dem epochalen Eindruck der Französischen Revolution wandte sich Kant Recht und Politik, namentlich der Frage von Krieg und Frieden, zu. Der ‚ewige Friede’ ist sittlicher Horizont der Politik. Kant weiß aber sehr genau, dass er nicht wie ein Faktum in politischem Handeln vorausgesetzt werden darf, weshalb sich ein bedingungsloser, gar fanatischer Pazifismus zu allerletzt auf ihn berufen kann. Die Welt des Gleichgewichts und des ‚Ius publicum Europaeum’ soll in eine stabile Form überführt werden. Dabei hat Kant darauf verwiesen, dass die Idee des Völkerrechts „auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sei“ und nur auf der Grundlage republikanischer, das heißt: im Sinne von Montesquieus Gewaltenteilungslehre verfasster Staaten ins Werk gesetzt werden könne. Republikanismus ist das „Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt,“ also der Regierung, von der gesetzgebenden. Wo immer diese Sonderung nicht gewahrt ist, ist Despotismus zu erwarten. Vor dem Hintergrund der Geschichtserfahrung der Französischen Revolution sieht Kant mit großer Klarheit, dass auch Demokratien despotische Züge annehmen können, deren Zerstörungsmacht sich massiv entfesseln wird, da in ihnen alles Herr sein will.

Ungeachtet einer missverständlichen universalistischen Rezeption bis auf den heutigen Tag ist es offensichtlich, dass Kant einer abstrakten universalen Menschenverbrüderung eine eindeutige Absage erteilt. „So viel ist wohl mit Wahrscheinlichkeit zu urteilen, dass die Vermischung der Stämme (bei großen Eroberungen), welche nach und nach die Charaktere auslöscht, dem Menschengeschlecht alles vorgeblichen Philanthropismus ungeachtet nicht zuträglich sein“. Und der ‚ewige Friede’ selbst kann sich nur auf dem Grund des Völkerrechts, als ein „Föderalism freier Staaten“ begründen. „Die Absonderung vieler voneinander unabhängiger benachbarter Staaten“ ist darin vorausgesetzt. Die positive Idee einer Weltrepublik hingegen liefe, wie Kant im Unterschied zu vielen Friedenkonzeptionen des 20. Jahrhunderts, etwa von Carl Friedrich von Weizsäcker, klar gesehen hat, Idee und Wesen des Friedens zuwider, denn ein Weltstaat wird kaum freiheitlich und gewaltenteilig verfasst sein und in ihm wird kein gemeinsamer Geist alle Schichten der Bevölkerung durchdringen können.

In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass Kant das Weltbürgerrecht ‚definiert’, also eigentlich auf den unverzichtbaren Kern eingegrenzt hat, über den nicht hinausgegangen werden darf, wenn seine Substanz bewahrt werden soll. Es kann kein „Gastrecht“ sein, sondern ist auf ein „Besuchsrecht“ einzugrenzen.

Dies gibt Kant Anlass zu bis heute bemerkenswerten Reflexionen über den Zusammenhang von Politik und Moral. Er widerspricht von Grund auf den Jakobinern des Tugendterrors und der Gesinnungs-Politik, die von Robespierre bis in die Gegenwart beides unzulässig und mit oftmals zerstörerischen Folgen vermischten. Die Politik muss aber ihre Knie vor dem Recht beugen und auf jedem ihrer Schritte der Moral gehuldigt haben. Exemplarisch und vorbildhaft ist in diesem Zusammenhang für Kant das berühmte Wort von Friedrich dem Großen, er sei nur der erste Diener seines Staates. Es bedeutet, „dass er ein Amt übernommen habe, was für einen Menschen zu große ist, nämlich das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen zu verwalten, und diesem Augapfel Gottes irgend worin zu nahe getreten zu sein, [er]jederzeit in Besorgnis stehen muss“.

Der ewige Friede ist also nach Kant ein ‚Geschichtszeichen’, ein Anhalts-und Orientierungspunkt zu einer „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“, in der er das größte und schwerste Problem der Menschengattung und zugleich ihre herausragende politische und rechtsgebende Verpflichtung erkennt.

Dem Begriff des Patriotismus und damit indirekt dem Geist von Königsberg und Altpreußen gab Kant dabei zunehmend Raum: Universalismus kann nur aus wohlverstandenem Patriotismus kommen, denn der Mensch kann aufgrund seiner endlichen Natur die Erde nicht unvermittelt als sein Vaterland betrachten. Vielmehr kann er nur „in der Anhänglichkeit für sein Land Neigung haben, das Wohl der ganzen Welt zu befördern.“ Jener Patriotismus müsse auf eine „vereinigte Volksgesellschaft gerichtet (sein), die wir als Stamm und uns als dessen Glied ansehen“. Deshalb ging Kant am Ende soweit, eine patriotische Herrschaft, in der Regierende und Regierte untereinander verbunden sind, als das wahrhaftige Gegenstück gegen jedwede Despotie zu erkennen. „Patriotisch ist nämlich die Denkungsart, da ein jeder im Staat (das Oberhaupt desselben nicht ausgenommen) das gemeine Wesen als mütterlichen Schoß, oder das Land als den väterlichen Boden, aus und auf dem er selbst entsprungen, und welchen er auch so als ein teures Unterpfand hinterlassen muss, betrachtet.“

Die übergreifende und abschließende vierte Frage des philosophischen Systems bezieht sich auf die ‚Bestimmung des Menschen’. Sie ist durch eine elementare Zweideutigkeit gekennzeichnet: Einerseits ist er Sinnenwesen, gebunden an seine Bedürfnisnatur. Dies macht aber nur seine äußerliche ‚Erscheinung’ aus. ‚An sich selbst’, seiner Idee und seinem Wesen nach, hingegen ist er Bewohner der geistigen Welt. Und in seiner intelligiblen Verfassung ist er zugleich „Endzweck des Daseins der Schöpfung selbst“. Der Mensch ist sich deshalb immer ‚aufgegeben’.

Kant hat im Umkreis seiner dritten Kritik, der ‚Kritik der Urteilskraft’ in diesem Sinn das Augenmerk auf eine teleologische, zweckhafte Auslegung der natürlichen Welt gerichtet, obgleich jene Zwecknatur nicht Gegenstand der raum-zeitlich verfassten Verstandeserkenntnis sein kann. Als Mechanismus ist die Natur nicht zu begreifen. Doch in dem freien Spiel, in das die Natur – und ihre Nachahmung, die Kunst, unsere Einbildungskraft versetzt, zeigt sich jeweils eine Zweckhaftigkeit, in der nichts „umsonst, zwecklos oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben ist“ .

Im Grunde könnten, so hat Kant gelegentlich bemerkt, Metaphysik, Moral und Religion „zur Anthropologie gerechnet werden“: denn erst in der Bestimmung des Menschen erfüllen sich die drei Fragen nach dem Grund des Wissens, der sittlichen Verpflichtung und möglicher Hoffnung.

Auch heute kann der große Selbstdenker aus Königsberg, wenn er jenseits dogmatischer Selbstverständlichkeiten studiert wird, lehren, sich im Leben und Denken zu orientieren. Beispielhaft für sein Vermächtnis sind jene Sätze, mit denen er am 30. September 1784 seine Beantwortung der Frage: ‚Was ist Aufklärung?’ abschloss: „Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volkes (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als eine Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.“

II.

In derselben altpreußischen Stadt Königsberg wuchs Kant sein scharfsinnigster und originellster zeitgenössischer Kritiker heran: Johann Gottfried Herder. Der 1744 in Mohrungen in Ostpreußen als Sohn eines Glöckners geborene Herder war durch den großen Lehrer in die Philosophie gezogen worden. Herder hatte, lange bevor die ‚Kritik der reinen Vernunft’ ihren Siegeszug antrat und Kant berühmt machte, die Größe des Philosophen intuitiv erkannt und es als höchst beglückend empfunden, ihn hören zu können. Seither wurde ihm die Philosophie das „Lieblingsfeld“ seiner Jugend.

Emphatisch hatte er geschrieben:

„Wenn Zeit! Einst nach zertrümmertem All
du deiner Brust tief deinen Liebling eingräbst,...
so brenn, der Ewigkeit Nacht unüberglänzbar zu leuchten,
auch dein Name, Kant!“.

Und Herder gibt die schönsten Schilderungen des noch jungen Kant im Hörsaal und im menschlichen Umgang zwischen Schüler und Lehrer. Die hohe Sittlichkeit und die Beweglichkeit, die Suche nach Weltkenntnis tritt in dieser Schilderung gleichermaßen ans Licht, in klarem Gegensatz zu dem bösen – und letztlich unzutreffenden Wort Heinrich Heines, Kants Lebensgeschichte zu schreiben sei unmöglich, da er weder Leben habe noch Geschichte. „Ich habe das Glück gehabt, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglings. Seine offene, zum Denken gebaute Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die gedankenreichste Rede floss von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebote, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang [...]. Dieser Mann, den ich mit größter Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant, sein Bild steht angenehm vor mir“. Bemerkenswert ist es, dass dieses Portrait in Herders Humanitäts-Briefen entwickelt wurde, zu einer Zeit, als er sich schon lange gedanklich von Kant entfernt hat.

Er geriet in den Bannkreis von Johann Georg Hamann, des ‚Magus aus dem Norden’, der 1730 in Königsberg geboren worden und in der preußischen Zollverwaltung vor allem als Übersetzer beschäftigt war, seit 1777 als Packhofverwalter im Königsberger Hafen.

Hamann hatte dem jungen Herder zunächst Englischunterricht erteilt; später führten sie über Jahrzehnte von Haus zu Haus einen eingehenden Briefwechsel. Der Mensch als Sprachwesen, die Schöpfung als Anrede Gottes an den Menschen: Vernunft nur als Antwort auf das Angeredetsein, dies ist das Grundmotiv im Denken des ‚Magus aus dem Norden’, das bei dem jungen Herder tief einwurzelt.

So schrieb Hamann im Anschluss an einen originären Gebetsruf: „Rede, dass ich Dich sehe! - Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; den ein Tag sagt’ s dem andern, und eine Nacht thuts kund der andern“. Gegenüber Kant hatte Hamann in einer erst nach seinem Tod im Jahr 1800 veröffentlichten ‚Metakritik über den Purism der Vernunft’ eingewandt, dass, wenn die Kantische Vernunftkritik gelingen solle, es einer dreifachen Abstraktion von allem Leben bedürfe. Darin müsse die „Vernunft von aller Überlieferung, Tradition und Glauben daran“ gereinigt werden, auch „von der Erfahrung“ und schließlich von der Sprache, die aber doch „das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft“ sei. Sprache ist immer an ihre Genese aus der Geschichte eines Volkes gebunden, und zugleich ist jede Sprache als Übersetzung des Urwortes der Schöpfung zu verstehen. Bemerkenswert ist es, dass Hamann in der Sprache Sinnlichkeit und Verstand bereits geeint sieht, deren Verbindung Kants höchste Denkanstrengungen galten. Dieser bedeutende, eher explosionsartig rhapsodisch als systematisch formulierende Denker hielt lebenslang am Staunen über das welterschließende, zugleich aber selbst rätselhafte Sprachwunder fest. „Vernunft ist Sprache, Logos [...]. Noch bleibt es immer finster über dieser Tiefe für mich: Ich warte noch immer auf einen apokalyptischen Engel mit einem Schlüssel zu diesem Abgrund“ (An Herder, 8. August 1784).

In seiner Schrift ‚Über den Ursprung der Sprache’, die im Mai 1771 von der Berliner Akademie der Wissenschaft preisgekrönt wurde, hatte Herder die sinnliche und begriffliche Doppelseitigkeit der Sprache in Übereinstimmung mit Hamann hervorgehoben. Beide Seiten sind, ähnlich wie Seele und Leib, nicht voneinander zu trennen. Die Sprache hat aber Herder zufolge einen ausschließlich menschlichen, nicht einen göttlichen Ursprung. Sprache unterscheidet sich mit ihrer ersten Artikulation fundamental vom Naturlaut. Und erst aufgrund seiner Sprache ist der Mensch erst Mensch. Die Sprache jedes einzelnen Individuums ist unverwechselbar. Sie nimmt aber vorgefundene Schichten auf, fügt sich in die

Sprach- und Verstehensgemeinschaft und bildet sie zugleich auf eine unverwechselbare Art fort. Daher sind Pflege und Augenmerk für seine Sprache für den einzelnen Menschen das beste Mittel, um zur Besinnung über sich selbst zu kommen. An einem Punkt allerdings lässt sich ein klarer Dissens zwischen Herder und Hamann erkennen: Herder führt die Besonnenheit, die zur Hervorbringung der Sprache geführt habe, wesentlich auf eine Unterlegenheit des Menschen gegenüber den anderen natürlichen Lebewesen zurück. Seine – von Arnold Gehlen im 20. Jahrhundert eindrücklich wiedererinnerte – Bestimmung des Menschen als eines ‚Mängelwesens’ fand Hamann schlichtweg unsinnig. Es entstand ein weiterer Königsberger Streit, dessen Spuren man in beider Briefwechsel eindrücklich verfolgen kann.

Hamann bestand darauf, dass die Natur des Menschen aufgrund des Sprachvermögens aus dem Weltzusammenhang herausgehoben ist. Der menschliche Ursprung der Sprache „zeigt Gott im größesten Lichte: sein Werk, eine menschliche Seele, durch sich selbst eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sein Werk, eine menschliche Seele ist [...]. Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art göttlich, sofern er menschlich ist.“

Trotz solcher Auffassungsdifferenzen formulierte Herder seinerseits eine pointierte Kant-Kritik, die vollkommen mit Hamanns Einwänden übereinstimmt. „Die menschliche Seele denkt mit Worten; sie äußert nicht nur, sondern sie bezeichnet sich selbst auch und ordnet ihre Gedanken mittelst der Sprache... In Sachen der reinen oder unreinen Vernunft also muss dieser alte, allgemeingültige und notwendige Zeuge abgehört werden.“ Damit eröffnet sich, auch wenn Herder Kants zentrales Anliegen missverstanden haben mag, ein geistiger Kosmos, der für die Dichtung des jungen Goethe und für die deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts prägend bleibt, ein Erbe, dessen wir uns heute verstärkt wieder erinnern sollten: Man kann Herder mit guten Gründen auf deutscher Seite als den philosophischen Begründer der nationalen Idee begreifen. Er ist sich mit Hamann darin einig, dass die Offenbarung Gottes in zwei Büchern niedergelegt ist, der Natur und der Geschichte. Geschichte versteht er als gottgewirkt. Was sich bei Kant andeutete, wird bei Herder zum zentralen Gedanken: dass nämlich Partikularität und Universalität nicht auseinander zu reißen sind. In der Vielfalt der Völker kommt das ‚eine’ Bauprinzip der Menschheit zum Ausdruck. Das Lebensrecht der Nation in ihrer Geschichte bedeutet selbst eine dringende Forderung der Humanität.  Das Recht der Nationen ist Teil des Rechtes der Menschheit. Denn menschliche Kultur kann es nicht im allgemeinen geben, sondern lediglich in der spezifischen Zugehörigkeit zu der eigenen Nation. Herders Verweis auf die Unhintergehbarkeit des Nationalen ist immer theologisch begründet; dies unterscheidet ihn essentiell von jedwedem späteren fanatischen Nationalismus. Herder zufolge ist jede Nation, um ein Wort von Ranke zu variieren, gleichermaßen ‚unmittelbar zu Gott’. Mit der geistigen oder physischen Destruktion der Vielheit authentischer nationaler Überlieferungen wird die Möglichkeit der Kultur überhaupt, der Pflege und Höhererhebung in die „öde Leere und die sinnlose Gleichförmigkeit“ (Günter Rohrmoser) einer abstrakten Menschheitsvereinigung aufgelöst.  Noch vor der Erfahrung der Französischen Revolution greift Herder dabei auf klassische exemplarische Grundtopoi der philosophischen Begründung der Polis, auf eine Zusammenstimmung (Sym -phonia) zurück, die im Sinn des klassischen Griechenland (Platon, Aristoteles) nur in einem gemeinsamen Herkommen möglich ist.

Pluralität und Reichtum der Geschichte sind nach Herders Einsicht Gottes Gang in der Zeit, ein bedeutsamer Gedanke, der von Hegel und in der großen Tradition des Historismus wieder aufgenommen werden wird. Damit hat sich Herder dem Maschinen- und Fortschrittsgang der Aufklärung radikal entgegengesetzt, der ‚Furie des Verschwindens’ (G.W.F. Hegel), die gleichermaßen im Terror und in den Reißbrettkonstruktionen einer modernen Gesellschaft ins Werk gesetzt wird, die der Fiktion nachhängt, das Paradies auf Erden ließe sich konstruieren und die sich, unter Umständen mit brutalen Mitteln, des Überlieferten entledigt. Über dem Menschen waltet ein gottgewirktes Schicksal, das Verhängnis erfahrener und erlittener Geschichte, in das der Mensch einbegriffen ist, das er aber zugleich zu einem Teil mitformen und prägen kann.

Aufgrund dieser Einsicht geht Herder der Bildung des Menschengeschlechts in alten überlieferten Zeugnissen nach, er sammelt Lieder und Mythen. Seine ‚fliegenden Blätter’ ‚Von deutscher Art und Kunst’ sind initiierend für die Poetik und Kunstphilosophie der Stürmer und Dränger, allen voran Goethe, geworden, und auch der nationale Aufbruch der jungen Generation der Romantiker bezog von dort seine Inspirationen.  Die Sammlungen der Brüder Grimm wären ohne Herder kaum denkbar.  Goethes Rede zum Shakespeares-Tag und seine Schrift ‚Von deutscher Baukunst’, dem Erbauer des Straßburger Münsters, Erwin von Steinbach zugeeignet, gibt ein Echo auf das allgemein Menschliche in seiner geschichtlichen Besonderheit. Die „charakteristische Kunst“ ist für Herder und Goethe die allein wahre, sie nur kann sich, in den „unzählige(n) Grade(n)“ zwischen Nationen und einzelnen Menschen zu einer von Ewigkeit zu Ewigkeit bestehenden All-Harmonie erheben.  Der gemeinsame Geist, der alle Bereiche einer Nation zusammenstimmen und verbinden muss, sonst würde sie zerfallen!, ist, wie Herder weiß, immer nur der spezifische Geist eines Herkunftslandes, der, wie er in Anknüpfung an Montesquieu festhält, durch Geographie, Klima und Bodenbeschaffenheit geprägt ist. Eine solche Philosophie der Macht und der Würde der Anfänge erweist wie selbstverständlich ihrer eigenen Herkunft eine tiefe Referenz!

Dieser geschichtsphilosophische Blick ändert sich damit auf fast revolutionäre Weise. Denn anders als die Aufklärer kehrt Herder nicht dem Paradies den Rücken, sondern fragt nach den orientierenden Anfangsgründen der Menschengeschichte. Dies bedeutet auch, dass er die westliche Aufklärung in ihrem Fortschreiten nicht als das Maß der Kultur und des Fortschritts anerkennt. Im Reichtum seines dichterischen, theologischen und denkerischen Werkes schärft Herder durchweg ein, dass es keine Zukunft ohne Herkunft geben kann.

III.

Es gibt eine die Jahrhunderte übergreifende Tradition der Mystik und der Vereinigung mit Gott, die einen ihrer wichtigsten Konzentrationspunkte im deutschen Osten gefunden hat. Zu denken ist an den Schuhmacher Jakob Böhme aus Görlitz an der Neiße, aus dessen Gottesschau sich Prägungen einer deutschen Philosophiesprache wie ‚Grund’ und ‚Ursache’ herleiten, ohne welche die klassische deutsche Philosophie und Dichtung von Schiller über Fichte, Hegel und Schelling kaum vorstellbar wäre.

Freunden schrieb Böhme ins Stammbuch: „Wem Zeit ist wie Ewigkeit/ Und Ewigkeit wie die Zeit,/Der ist befreit von allem Streit“. Hegel nannte ihn mit Recht den ‚ersten deutschen Philosophen’, dessen Hauptgedanke im Kern sagt, was die idealistische Spekulation enthält, „dass das Universum ein göttliches Leben und Offenbaren Gottes in allen Dingen ist; dass aus dem einen Wesen Gottes, dem Inbegriff aller Kräfte und Qualitäten, der Sohn ewig geboren wird, der in jenen Kräften leuchtet: die innere Einheit dieses Lichts mit der Substanz der Kräfte ist der Geist.“

Böhme an die Seite zu stellen ist der Breslauer Johann Scheffler, Angelus Silesius, dessen ‚Cherubinischer Wandersmann’ von einer Frömmigkeit und Versenkung, der Erwartung der Geburt Gottes in der Seele zeugt, die sich in der Versenkung in das Kleinste und Geringste aufschließt. „Mein Gott, wie mag das sein? Mein Geist, die Nichtigkeit ,/Sehnt zu verschlingen dich, den Raum der Ewigkeit“. Das Geheimnis ist, so wussten die Mystiker aller Zeiten stets, die Einkehr in das, was nahe und gleichsam vor unseren Augen liegt. „Kein Stäublein ist so schlecht, kein Stümpfchen ist so klein, /Der Weise siehet Gott ganz herrlich drinne sein.“ „In einem Senfkörnlein, so du’s verstehen wilt,/ Ist aller oberen und untern Dinge Bild“. Jeder Versuch einer Ausforschung des Wesens Gottes muss sich im Licht der Weisheit des ‚Cherubinischen Wandersmanns’ als ‚vergeblich’ erweisen und kann nur weiter von dem Ziel wegführen. Denn „In Gott wird nichts erkannt: Er ist ein Einig Ein./ Was man in Ihm erkennt, das muss man selber sein“.

Die Rose ist, wie für Jacob Böhme auch für Angelus Silesius und im 20. Jahrhundert für Rainer Maria Rilke ein besonders tiefes Sinnbild: zeigt sich in ihr doch Schönheit und Vollkommenheit unter Schmerz und Dornen, ein Symbol nicht nur für die untrennbare Verbindung von Liebe und Schmerz, sondern auch für die im Kreuz offenbarte Erlösungsherrlichkeit Gottes. „Die Rose, welche hier dein äußres Auge sieht,/Die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht“.

IV.

Lebend sollten sie ihn nicht aus seinem Hause bringen: so ließ Gerhart Hauptmann in seinen letzten Lebensmonaten immer wieder wissen, nachdem die Rote Armee in Agnetendorf eingezogen war. Dies sollte sich bewahrheiten.  Mit einem Säckchen voll schlesischer Erde wurden Hauptmanns sterbliche Überreste Wochen nach seinem Tod (6. Juni 1946) vom schlesischen Wiesenstein unter abenteuerlichen Umständen nach Hiddensee, dem Aufenthaltsort vieler glücklicher Sommer überführt und dort am 28. Juli 1946 im Morgengrauen beigesetzt.

Die lebenslange Verbindung eines dichterischen Weltkosmos mit der Heimat ist in seiner letzten Lebenszeit, den Wochen der deutschen Katastrophe, nachdrücklich besiegelt worden. Die Zeilen, die er bei der Zerstörung Dresdens im Februar 1945 schrieb, bezeichnen zugleich den eigenen Ort jenseits aller politischen Parteistellungen. Nachdem der alte Mann eingestanden hatte, dass er sich seiner Tränen beim Untergang Dresdens nicht schäme, schloss er sein bewegendes Prosagedicht mit den Zeilen: „Von Dresden aus, von seiner klösterlich-gleichmäßigen Kunstpflege in Musik und Wort sind herrliche Ströme durch die Welt geflossen, und auch England und Amerika haben durstig davon getrunken. Haben sie das vergessen? Ich bin nahezu dreiundachtzig Jahre alt und stehe mit einem Vermächtnis vor Gott, das leider machtlos ist und nur aus dem Herzen kommt: es ist die Bitte, Gott möge die Menschen mehr lieben, läutern und klären zu ihrem Heil als bisher“.

1862 war Hauptmann als Sohn des Gastwirts im schlesischen Bad Salzbrunn, Robert Hauptmann, in gutbürgerlichen Verhältnissen geboren worden.  Sein Bruder Carl, auch er ein namhafter, heute zu Unrecht vergessener Dichter, war vier Jahre älter. Gerhart Hauptmann, dessen Jugend sich in einen ‚Wirbel der Berufungen’ zwischen Dichtung und bildender Kunst verstrickte und erst langsam, über lange Aufenthalte in Italien zur Klarheit über sich selbst kam, war in mehrfacher Hinsicht ein letzter Exponent des bürgerlichen Zeitalters, ein letzter Dichterfürst und nach einem Wort von Thomas Mann sogar der heimliche König der Weimarer Republik, der letzte, der in allen „Naturformen der Poesie“ (Goethe), in Drama, Epos, Prosa gleichermaßen heimisch war und dessen dramatisches Spektrum die gesamte Shakespearesche Spannweite von der Tragödie über das romantische Drama zur Komödie ausmisst. Damit dürfte er unter den großen Tragödiendichtern der Moderne weitgehend alleine stehen. Zugleich sind Hauptmanns frühe Dramen beispielgebend für die Dramatik der – naturalistischen – Moderne in Deutschland geblieben, in seinem ‚Bahnwärter Thiel’ hat er eine zuvor, im psychologischen Roman des 19. Jahrhunderts unerhörte Verdichtung der Bildsprache, etwa in Farben- und Bewegungsbezeichnungen, erreicht, die Thiels Wahnsinn und die Ermordung seiner zweiten Frau und ihres Kindes mit Technik und Geschwindigkeit verbinden.

Hauptmann, der Grandseigneur des Theaters und auf Jahre hin Repräsentant deutscher Kultur, war eine Epochengestalt, die sich selbst das Maß setzen musste, weil ihre Umgebung ihr kaum gewachsen war. Es war Goethe, auf den sich Hauptmann immer wieder berief, in einer Nachfolge, die sogar einzelne Werke als Antworten auf die Weltdichtung des Weimaraners bezog. Dass damit Missverhältnisse einhergingen, die Thomas Mann zu seiner Peeperkorn-Parodie im ‚Zauberberg’ veranlassten, sollte nicht über Hauptmanns genuine dichterische Größe hinwegsehen lassen.

Untrennbar wie bei kaum einem zweiten ist Hauptmanns Dichtung mit seinen schlesischen Ursprüngen verflochten: das naturalistische Frühwerk führt das Elend der kleinen Leute exemplarisch vor Augen. Das Drama ‚Vor Sonnenaufgang’, geprägt gleichermaßen durch Ibsens Dramen und Tolstojs ‚Macht der Finsternis’, bringt die Verelendung der Kohlearbeiter von Witzdorf (Weißstein) und die Korruption der Neureichen, Ehebruch, Gewalttätigkeit und einen allgegenwärtigen zerstörerischen Alhoholismus ins Spiel. Obgleich der junge Hauptmann an die Stelle von Tolstojs religiösen Erlösungserwartungen in der Gestalt seines Protagonisten Loth sozialistische Hoffnungen und Erwartungen setzt, zu der das Darwinsche Dogma der Erblehre und die zeitgenössische Eugenik gehören, wiegt die Zeichnung menschlicher Schicksalscharaktere schwerer als alle Lehre oder Ideologie. Die Liebe zwischen Loth und Helene scheitert, Helenes Freitod indessen zeigt eindrücklich, und im Anschluss an die Kategorie des Erhabenen in der klassischen deutschen Philosophie und Dichtung, die Macht des einzelnen, sich aus dem angestammten Milieu, aber auch aus den Einengungen der eigenen Zeit zu lösen.

Hauptmanns großer Erfolg, ‚Die Weber’, die in ihrer Wirkungsgeschichte zu einem Erdbeben auf dem Theater führen sollten, ist unendlich weit entfernt von der Schilderung der ‚Weberkolonie’ in Goethes ‚Wilhelm Meisters Wanderjahre(n)’ von 1829, wo es noch geheißen hatte: „Häuslicher Zustand, auf Frömmigkeit gegründet, durch Fleiß und Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im glücklichsten Verhältnis der Pflichten zu den Fähigkeiten und Kräften“. Goethe blickte noch aus dem ‚Herbst des alten Handwerks’ (Michael Stürmer) auf das Weberschicksal, Hauptmann bringt den verhängnisvollen Zusammenhang von Massenverelendung und Maschinentechnik der zweiten Industriellen Revolution zur Darstellung.

Die Erstfassung in schlesischem Dialekt – ‚Die Waber’ – hatte Hauptmann 1891 beendet, die dem Hochdeutschen nahekommende Bühnenfassung bedeutete auch eine Konzession an Bühnenwirksamkeit und Spielbarkeit. Dass dieses Drama ganz und gar aus seinem Genius loci hervorging, konnte darüber nicht übersehen werden. In eindrücklichster Weise hat Hauptmann in den ‚Webern’ die soziale Frage auf Recht und Unrecht bezogen. „Die meisten der harrenden Webersleute“, so hatte Hauptmann sie selbst charakterisiert, „gleichen Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über Tod und Leben zu erwarten haben“. Das Weberlied aus dem Weberaufstand des Jahres 1844 fügt Hauptmann an entscheidenden Stellen wie ein Leitmotiv in seine Dichtung ein. Es verdichtet das Elend, das sich besonders prägnant in der Klage einer jungen Mutter um ihre verhungerten Kinder ausspricht. Ihr widerspricht, mit dem tröstenden Blick auf jenseitige himmlische Herrlichkeit, der alte Hilse, der dazu berufen ist, wie kein zweiter; denn er hat die drückenden Umstände ein Leben lang in unerschütterlicher Glaubenstreue und Gottvertrauen ertragen. Dass er nicht von seinem Webstuhl weicht und von einer verirrten Kugel getroffen wird, schien dem alten Fontane, der wie kein zweiter die epochale Bedeutung Hauptmanns erkannte, ein ‚Notbehelf’ zu sein; man könnte darin auch den Höhepunkt der Schicksalstragödie der ‚Weber’ sehen. Unstrittig nämlich ist die Revolutionstendenz in Hauptmanns schlesischem Stück nicht als Handlung politischer Agenten verstanden, sondern als ein notwendiges und reflexhaftes Sich-Aufbäumen der gedemütigten menschlichen Natur. Herkunft, Gesicht und Stimme des einzelnen bleiben erkennbar. 

Von dem naturalistischen Dramenstil löste sich Hauptmann schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, wobei er den eigenen frühen Ansätzen zur Schicksalstragödie unschwer folgen konnte. Dies geschah am konsequentesten in seiner ‚Rose Bernd’, die bürgerliches Trauerspiel und Kindermörderinnentragödie zugleich ist.

Thomas Mann hat 1952 in seiner Gedenkrede das Stück treffend dadurch charakterisiert gesehen, dass Hauptmann „durch das Moderne und Mundartliche das zeitlos Vorbildliche, Klassische“ habe hindurchschimmern lassen. Es ist erneut die Annäherung an die schlesische Diktion, in der Hauptmann wie „im rauen Gewand“ der Gegenwart die zentrale Frage der antiken Tragödie, die ‚schuldlose Schuld’, sichtbar macht. Damit hebt er aber zugleich sein Schlesisch auf die Höhe der Dichtungssprache. Dessen Färbung ist seither unvergänglicher Bestandteil deutscher Literatur.

Es folgten in einer schier unerschöpflichen dramatischen Produktivität Stücke, in denen Frauen- und Müttergestalten im Zentrum stehen: ‚der Biberpelz’, in dem der Rechtskreis von Schuld und Strafe nicht schließt und Mutter Wolffen mit ihren kleinen Delikten, begünstigt durch die Borniertheit der Obrigkeit, durchkommt; ‚die Ratten’ mit ihrer Kontrastierung „zweier Welten“, der bürgerlichen Ordnung einerseits und dem Dunkel einer kriminellen Unterwelt andrerseits.

Im August 1901 bezog Hauptmann, nach langen Jahren in der Künstlerkolonie Erkner bei Berlin, sein Lebenshaus auf dem Wiesenstein bei Agnetendorf. Es bedeutete für ihn eine Rückkehr in die Landschaft der Herkunft und zugleich zu ihren Sprachquellen. „Als ich hier her kam, ahnte ich kaum, in welchem Maße mich diese gewaltige Welt sich angleichen sollte. Sie umschloss mich mit ihrer tiefen Magie. Sie ließ nicht nach mit der wilden Dramatik ihrer Gewölke, ihren Föhnen, ihren Äquinoktialrasereien zugleich den Zauber der Jahreszeiten, den unerschöpflichen Reiz alpiner Schönheiten zu entfalten. Je mehr ich mich in das Damals hineinsinne, je ungeheurer in meinem kleinen Leben erstehen die Folgen jenes Schrittes, der mich in diese Gebirge führte. Sie wurden die eigentliche Welt in der Welt für mich. Der Sinn meines Lebens in der Welt zum wahren Sein und Genießen darin ward mir hier erschlossen. Und ich wollte darüber hinaus nichts sehen, was nicht durch diesen Rahmen gesehen wurde. In einem gewissen Sinne ist es wahr, wenn ich sage, ich sei, wohin es mich immer auch außerhalb dieses Bereiches über Grenzen und Ozeane verschlagen hat, nie eigentlich wieder aus ihm hinausgetreten. Man mag ermessen, ob mein Schritt in die Öffentlichkeit oder in die Heimatberge wichtiger war“. Märchenspiel, Legende und Mythos, die innere Welt in alten, aus der Landschaft geschöpften Bildern werden in einer Reihe von Dichtungen variiert, wie der ‚versunkenen Glocke’, wo in der Gestalt des Glockengießers Heinrich eine (von Hauptmann selbst immer wieder durchlebte) künstlerische Krise zur Darstellung kommt, und mit ihr die Gefahren einer Öffnung für die erdhaften Mächte. Die Kraft der Sonne, die Gegensätzlichkeit von Helle und Dunkel, Spiritualität und Sinnlichkeit, Moral und Leben durchziehen seither Hauptmanns spätere Dichtung bis zur späten Atriden-Tetralogie.

Auch das im Januar 1906 in Berlin aufgeführte ‚Glashüttenmärchen’ ‚Und Pippa tanzt!’ spiegelt zeitenthobene Archetypen in der Herkunftslandschaft. Zu der Gestalt der Pippa hatte Hauptmann seine Liebesfaszination durch die sechzehnjährige Schauspielerin Ida Orloff inspiriert, auf die in der Entstehungszeit der ‚Pippa’ ein bewegt bewegendes Gedicht schrieb:

„Einer möchte ‚viele’ sein!
Süßen Schein trinkt durstige Liebe.
Ohne dass ich selbst zerstiebe,
möchte’ ich Herr im Spiele sein“.

Pippa, Schmetterling und Seelenvogel, ist eine dichterische Verwandlung der antiken Psyche-Gestalt, der eine männliche Entsprechung in dem arbeitslosen Glasbläser Huhn, eine verwandelte antike Dionysos-Figur an die Seite gestellt wird.

Die engere schlesische Umgegend, der Rotwassergrund, verbindet sich mit der griechischen, von Nietzsche wenige Jahrzehnte zuvor neu interpretierten Überlieferung von dem aus dem Osten kommenden Gott. Das Drama zeigt, wie die reine Anmut Pippas, der Kind-Frau, ihre Unschuld verliert. Dies wird offensichtlich, als sie, wider ihren Willen, tanzen muss.  In seinen Todesphantasien zeigt sich Huhn von gegenläufigen Mächten zerrissen, ein schlesischer Dionysos Zagreus: „Was denn? Lußt los! Lußt los, lußt los! Schlagt mir de Fangzähne nee ei a Nacka ! lußt los, lußt los!  Reißt m’r de Schenkel ne vo a Knocha! Reißt mir a Leib ni uf! Zerreißt mich nee! Zerreißt mir de Seele nee ei Sticke azwee!“. Leitmotivische Struktur gewinnt die Dichtung durch das Glasmotiv, das, im Anschluss an ein Wort Goethes, als zu Kugeln geballtes Wasser erscheint, Sinnbild höchster Klarheit und Sammlung aller irdischen und überirdischen Schönheit. In einer tiefen, symbolischen Übereinstimung zerbricht Huhn in dem Augenblick ein Glas, als Pippa stirbt.

Die Dichtung ist von vielfältigen Sagensträngen aus dem Riesengebirge durchwoben, Berichten von Goldsuchern mit magischen Kenntnissen, die als Walen oder Venediger bezeichnet werden, was aus der heimischen Sphäre in die Kunststadt, den „Künstlertraum“ Venedig als Sehnsuchtsort hinüberweist. Hauptmann verschränkt die reale Stadt am Wasser mit dem untergegangenen Vineto: das Übersetzen über den Canale Grande verdichtet sich zur Überfahrt über den Fluss Styx.

Bis heute ist Gerhart Hauptmanns Alterswerk in seiner weltliterarischen Bedeutung nicht wirklich angemessen gewürdigt worden. Dabei ist nicht zu übersehen, dass er in seinem ‚Till Eulenspiegel’ eine herausragende Zeitdichtung geschaffen hat. Das Epos, von „des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magiers Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche , Gaukeleien, Gesichte und Träume“ sollte, wie Goethes ‚Faust’’ nach dem Anspruch des Dichters Erde, Hölle und Himmel in sich aufnehmen.  Es spiegelt aber auch, in einer Konzeption, die im Jahr 1920 unter dem Eindruck des Kapp -Putsches niedergeschrieben wurde, Kriegsopfer und Bürgerkriegssituation der Jahre nach 1918. Hauptmanns Till Eulenspiegel-Gestalt folgt dem Leitwort des delphischen Orakels ‚Erkenne dich selbst’, er begreift das Leben als „Strom“, in dem nichts von Bestand ist, und wird unter dem Narrengewand zusehends geläutert. Wir finden ihn am Ende in jenem „Zustand entschlossener Passivität“, der „große(n) Eulenspiegel-Gesinnung. Abstand vom Leben“, die man auch in Hauptmanns späten Lebensjahren bemerken kann.

Jene Haltung formte sich bei dem Dichter in den Jahren nach 1914 aus. Eine tiefe nationale Bindung trat am Vorabend des Ersten Weltkriegs erstmals offen und polemisch zutage. Im Kern hatte sie Hauptmann seit frühesten Jahren gekennzeichnet. Sein Drama ‚Florian Geyer’ um den fränkischen Ritter, der im Bauernkrieg 1525 an die Seite der aufrührerischen Bauern trat, sollte ein Appell an deutsches Nationalbewusstsein sein, das ‚Deutsche Wunder’ der Kunst, wie es ihm am Sebaldusgrab in Nürnberg aufging, hallt immer wieder nach. Die unvermittelte Parteinahme 1914, der Einspruch gegen Romain Rollands Pazifismus und die Erklärung des Krieges zum ‚Elementarereignis’ hatten indes nur vorübergehenden Charakter. Denn Hauptmann erkannte, dass eine geistige Verbindung von Dichter und Nation, von Geist und politisch militärischer Macht, wie etwa zur Zeit der Befreiungskriege nicht möglich sei. Im Dezember 1914 schreibt er: „Wir leben ruhig, doch ohne Sammlung [...]. Hätte man doch die Konzentrationskraft Goethes. Wir sind aber anders geworden. Uns löscht das Riesenereignis draußen alles aus, während die großen Männer in den napoleonischen Wirren ihren besonderen geistigen Aufgaben oblagen: Vielleicht sind wir kleiner, vielleicht größer, vielleicht tiefer, vielleicht oberflächlicher“.

Und wenn er sich nach Ende des Ersten Weltkriegs einerseits nationale Forderungen zur Revision des Versailler Vertrags zueigen macht, zugleich aber auf Versöhnung mit den Nachbarvölkern und eine innere republikanische, staatliche Verfassung Deutschlands dringt, so wird vor allem deutlich, dass ihn die politische Gemengelage anwidert. „Es zieht mich nach Ravenna, an das Grab Dantes. Die Jämmerlichkeit des Schachers der Nationen, Düsseldorf etc. von den Franzosen besetzt, weil wir die Kriegsschuld nicht bezahlen können.- Nie entbehrte die Politik so aller Größe.“

In seiner Eulenspiegel-Dichtung zog Hauptmann daraus wortmächtig die Konsequenzen:

Man kann Tills Lebensreise als Geschichte mehrerer Reinigungen begreifen, als Aufstieg aus dem Hexensabbath der Ideologien, deren zerreißende, auf einen Bürgerkrieg im weltweiten Maßstab zutreibende Fratze er mit fast schon prophetischer Scharfsicht erkannte, in die Idealwelten des Mythos. Till gelangt am Ende in die Sphäre Admets, des Weisen vom Berge, der ihn als seinen „lieben Sohn“ begrüßt:

„Was dich herführt, ich seh’ es dir an. Es ist ebendasselbe,/Was dereinstmals ans Licht mich gedrängt aus den Reichen des Nachtmahrs“. Es ist offenkundig, dass Hauptmann, der sich als Dichter zeitlebens in Spuren und Affinitäten zu Goethe sah, die Gesichtszüge der eigenen unmittelbaren Zeitgeschichte seit 1914 als eine ‚große’ Konfusion und ‚Walpurgisnacht’ im freien Anschluss an Goethe auffasste. In diesem wirren Tanz haben auch die verschiedenen Reform- und Weltverbesserungsbewegungen, deren Zeuge und – immer aus dem Abstand freier zeitweiliger Anhänger Hauptmann war, ihren Platz. Eine entscheidende Differenz gegenüber Goethe ist aber offensichtlich – und sie war Hauptmann jederzeit selbst bewusst. Der Glaube an die erlösende Kraft des Humanen, kurz: der Glaube an den Menschen, ist deutlich zurückgetreten. Die Rehabilitierung des Tiers und der Natur, von der der Dichter immer wieder spricht, soll die Selbstzerstörungen und -befleckungen des Menschen heilen können.

Hauptmanns Eulenspiegel-Dichtung ist auch in ihrer Form eher ein Zeugnis des Aufbruchs als ein Alterswerk: Ihm gelingen eindrückliche Vergegenwärtigungen der mythischen Sprachwelt, zugleich aber spielt er mit Neologismen, mit der Vulgärsprache und Anglizismen.

Seine späten Jahre verbrachte Hauptmann mit einem großen Tragödien-Unternehmen, seiner ‚Atriden-Tetralogie’, die, zwischen Juli 1940 und Februar 1945 entstehend, der klassisch gewordenen Humanisierung des Iphigenienstoffes bei Goethe eine umgekehrt orientierte Version entgegensetzt. Man kann annehmen, dass die Schrecken der Zerstörung Europas, deren Zeuge er in seinen letzten Jahren wurde, den Blick auf das Wesen der antiken Tragödie geschärft haben , obwohl Hauptmann die griechischen Tragiker nicht im Original lesen konnte. Ältestes Altes und eigene Zeiterfahrung berühren sich hier eng. 1938 hatte er gegen Goethes ‚Iphigenien’-Dichtung kritisch angemerkt: „Dies Kunstwerk ist nicht elementar. Es ist nicht aus starker Intuition hervorgeschleudert. Es zeigt nicht, lässt nicht einmal ahnen die Furchtbarkeit der Tantaliden [...]. Das Grausen ist nirgends wahrhaft da. Hier sprechen allzu wohlerzogene, allzu gebildete Leute“. Dies sollte bei Hauptmann selbst offensichtlich anders sein. Das Schicksal des Menschen wird nicht von Aufklärung und Vernunft bestimmt, sondern dadurch, dass Götter in ihm Wohnung nehmen; womit Hauptmann zugleich die Kehrseite zu der Naturfrömmigkeit seines ‚Till Eulenspiegel’ entwirft. Im Delphi-Kapitel seines ‚Griechischen Frühlings’ im Jahr 1908 bereits konnte er, wie in einer jähen Vision im delphischen Tempelbezirk, auf der Reise an den Ursprungsort der Tragödie festhalten: „Es kann nicht geleugnet werden, Tragödie heißt: Feindschaft, Verfolgung, Hass und Liebe als Lebenswut! Tragödie heißt: Angst, Not, Gefahr, Pein, Qual, Marter, heißt Tücke, Verbrechen, Niedertracht, heißt Mord, Blutgier, Blutschande, Schlächterei – wobei die Blutschande nur gewaltsam in das Bereich des Grausens gesteigert ist“. Nur in einem Rückgang in diese Tiefen kann ermessen werden, dass höhere und tiefere Mächte über den Menschen verhängt sind. Die ‚Entzauberung der Welt’ in der Moderne, dies wusste bereits Max Weber bedeutet zugleich eine Wiederkehr der Götter, denen sich der Mensch nicht entziehen kann. Deshalb wäre es widersinnig, die Atriden -Tetralogie als eine verhüllte Anspielung auf die Hitler-Herrschaft zu deuten. Seine eigene Epoche lehrte den alten Hauptmann aber die Vordergründigkeit von Kultur und Humanität zu durchschauen. Hauptmann bildet eigenständig nach, was er als Characteristicum proprium der antiken Tragödie erkannt hatte: das Geschehen zwischen Olymp und Hades, Licht und Dunkel, Himmel und Hölle.

Angesichts der Abgründe, in die der alte Dichter hinabgestiegen ist, bedeutet es einen großen Gegen-Ton, dass er sich in seiner letzten Versdichtung ‚Der große Traum’ dem christlichen Gott und der Jesusgestalt zuwandte:

„Genug: ich will nicht meiner Träume Knecht,
noch deiner sein, Satanael, Verruchter!
Es nehme nun das Himmelreich sein Recht“.

Der ‚Schöpfer der Welten’ sei an seiner eigenen Schöpfung und ihrem Unfrieden ‚irre’ geworden, liest man immer wieder in dieser Dichtung.

Hauptmann hatte sich schon früher dichterisch an die Christus-Gestalt angenähert: sein Roman ‚Der Narr in Christo Emanuel Quint’ zeigt die Identifikation des „Giersdorfer Heilands“ mit Jesus und das Scheitern seiner radikalen Liebespraxis an den gegebenen Ordnungen. Hauptmann bediente sich dabei psychopathologischer Beschreibungen. Seine doppelte Ironie zielt einerseits gegen die bestehende Gesellschafts- und Staatsordnung, andrerseits aber gegen die Narrheit der Utopien und Erweckungsbewegungen einer Christusnachfolge. Das innerste Interesse dürfte er im Problem der Künstler-Existenz gefunden haben, zu der die ungeschützte Imitatio Christi Affinitäten aufweist. Die ‚Jesus -Mythe’ zog Hauptmann aber weiter in ihren Bann. Seine Erzählung ‚Der Ketzer von Soana’ deutet die Suche nach einer Versöhnung zischen dem Hohen Lied der Liebe und entfesselter Geschlechtlichkeit, Christentum und Heidentum an; in seiner Reinheit hat sich aber erst der alte Dichter des ‚Großen Traums’ in erkennbarer Nähe zu Dantes ‚Göttlicher Komödie’ der Wahrheit Christi anvertraut. Diese Dichtung führt in bewegender Weise auf eine Allversöhnung (Apokatastasis) über einer von Hass und Gewaltakten gezeichneten Welt.

„Der Uranfängliche ist nur gewährend.//

Die Hölle, sagt man, soll ein Feuer sein,/das ein verfluchter Engel angezündet - /doch glühet auch der Seraph ohne Pein: // denn Gottesglut ist auch in ihn gemündet. [...]

Und siehe da: er saß auf einem Thron,/zu dem die Wallfahrt aller Welten strebte,/taub gegen aller Kriegstrompeten Ton,// dem andern nach, der in den Lüften schwebte: /es war der Ruf von hirtlichen Schalmein,/drin, sel’ger Hoffnung, Freude, Friede bebte“.

Der große Kant lehrte, im Auge des Sturms der Französischen Revolution, dass der endliche Mensch nicht unvermittelt Kosmopolit sein könne. Patriotismus und nationale Identität sind unaufgebbare Voraussetzungen für ein wohlverstandenes Weltbürgertum.

Dabei ist, im Blick auf Kant, Herder, Hamann oder Gerhart Hauptmann daran zu erinnern, dass der geistige und kulturelle Raum einer Nation unteilbar bleibt. In ihm ist die Geschichte bewahrt, als großes Gespräch der Lebenden mit den Toten, das zu bewahren bleibt, wie immer die politischen Grenzziehungen verlaufen. Nicht minder bleibt wahr, was der frühere bayrische Kultusminister Hans Maier vor zwanzig Jahren schrieb: dass Heimat und Identität das menschliche Maß setzen, Heimatlosigkeit aber Maßlosigkeit sei.

Die Erinnerung an die Kultur des deutschen Ostens als unverlierbarer Teil nationaler Identität von Deutschland in Europa ist heute, am Vorabend des Gedenkens an den 60. Jahrestag des Kriegsendes und in einer sich globalisierenden Welt besonders akut. Das Vermächtnis der großen Kunst und des Denkens und Dichtens im deutschen Osten verweist auf Quellen, auf die sich jener Patriotismus, als aus der Herkunft stammende Zukunftsorientierung, berufen kann. Das Erbe ist Verpflichtung, zugleich aber Orientierung.


Harald Seubert, geboren 1967, in Nürnberg, lehrte von 1992-1998 Deutsche Literaturwissenschaft an der Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, ebd. lehrt er seit 1993 Religionsphilosophie und seit 1999 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Philosophie und Geistesgeschichte. Zahlreiche Gastdozenturen und –professuren im Inund Ausland.

Studium der Philosophie, Geschichts- und Literaturwissenschaft, sowie der Evangelischen Theologie in Erlangen, München, Wien, Frankfurt, Tübingen. Promotion mit einer Arbeit über Heidegger, Nietzsche und die Zukunft der Metaphysik, Habilitation mit einer Arbeit über Platon.

Jüngere Buchveröffentlichungen:

Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens (Köln, Weimar, Wien 2000); Spekulation und Subjektivität (Hamburg 2003); Polis und Nomos. Studien zu Platons Rechtslehre (Berlin 2004); Geschichtszeichen: Philosophische Interpretationen zur Geistesgeschichte der Neuzeit (Hamburg 2004); Religionsphilosophie (zeitgleich Posen und Freiburg 2004); Platon. Eine Einführung (Stuttgart 2005);

Hegel: System und Geschichte (ebd.); Politische Philosophie (i. Vorbereitung).
 

Quelle:
Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft, Hamburg, 2005,
(
www.swg-hamburg.de/Deutschland_Journal/Die_Kultur_der_deutschen_Ostgeboete ...)


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