Wenn den Deutschen noch so großes Unrecht
angetan wird, findet sich doch immer ein
obskurer deutscher Professor, der so lange
an der Objektivität herumbastelt,
bis er bewiesen hat, daß die Deutschen
Unrecht getan haben.
Baronin de
Staël
(1766-1817),
“De l’Allemagne”
Wofür wir etwas können. Kolumne von Stefan Scheil
„Ich kann auch nichts dafür, daß Polen zuerst
mobilisiert hat.“ Mit diesen Worten über das Frühjahr 1939 hat die
Vertriebenenfunktionärin Erika Steinbach vor einiger Zeit einen krachenden
Skandal ausgelöst. Möglicherweise deshalb verschwieg die FAZ neulich in einem
Beitrag über den „Scheinsieg der Gemäßigten“ sicherheitshalber, daß dies auch
für die Tschechoslowakei des Jahres 1938 gilt. Es galt schließlich,
75 Jahre
Münchener Abkommen zu bewältigen.
Dabei sind die Fakten klar und gesichert. Am 21.
Mai 1938 machte die tschechoslowakische Armee mobil und löste damit eine
gesamteuropäische Krise aus, da man allgemein erwartete, kurz vor einem Krieg zu
stehen. Als Grund für diesen Schritt wurden von der Regierung in Prag angebliche
deutsche Truppenbewegungen genannt. Diese Behauptung hatte allerdings einen
Schönheitsfehler: sie war frei erfunden.
Es folgten Dementis aus Berlin und Kontrollreisen
westlicher Militärattachés auf der vergeblichen Suche nach deutschen
Truppenbewegungen. Das Außenministerium bestellte den tschechoslowakischen
Botschafter ein, und Minister Ribbentrop mahnte ihn an, Prag müßte mit den
Falschmeldungen aufhören, sonst würden solche Truppenstationierungen eines Tages
noch Realität werden. Nach ein paar Tagen hob die Tschechoslowakei schließlich
die Alarmbereitschaft auf, und in Europa entstand der verbreitete und wohl
gewollte Eindruck, Deutschland sei vor der tschechischen Entschlossenheit
zurückgewichen. In Prag klopfte man sich auf die Schulter.
Vor 75 Jahren viele gegenseitige Bedrohungen und
Provokationen
Weniger bekannt ist übrigens, daß ein
einflußreicher britischer Politiker namens Winston Churchill über seine guten
Kontakte nach Prag die dortige Regierung vorher aufgefordert hatte, die
Nationalsozialisten zu provozieren. Wörtlich sagte er: „Er würde 50:1 wetten,
daß Deutschland in nächster Zeit die Tschechoslowakei nicht angreifen werde. Er
sagte ausdrücklich, er würde es vorziehen, wenn die Tschechoslowakei einen Krieg
hervorrufen würde.“ Zugleich sagte er für das Jahr 1938 den sicheren Sieg in
einem solchen Konflikt voraus. Das war am 21. April 1938. Im Prager
Außenministerium fertigte man eine entsprechende Notiz an.
Die Einlassungen von FAZ-Redakteur Rainer Blasius
über eine ausschließlich von der NS-Führung ausgehende Dynamik hin zu Krise und
Krieg werden von den Fakten nicht gedeckt. Und nicht nur das. Auch der
„Anschluß“ Österreichs – den er ebenfalls einer deutschen Initiative zuschreibt
– hätte kaum zu dieser Zeit oder in dieser Form stattgefunden, hätte nicht
Österreichs Kanzler Schuschnigg mit Londoner Rückendeckung versucht, die
Nationalsozialisten durch eine – verfassungswidrige – Blitzabstimmung zu
übertölpeln. Er wollte sich den Volkswillen zur dauerhaften Unabhängigkeit
bescheinigen lassen. Sicherheitshalber sollten nur Stimmzettel mit „ja“
ausgegeben werden.
Es gab vor 75 Jahren viele gegenseitige
Bedrohungs- und Provokationsszenarien. Mobil gemacht wurde an entscheidenden
Stellen nicht zuerst in Deutschland. Für diese vergangene Realität der Jahre
1938/39 „kann heute niemand etwas“. Dafür, daß sie verschwiegen wird, aber
schon.
Stefan
Scheil, Historiker, 1963 in Mannheim geboren, Studium der Geschichte und
Philosophie in Mannheim und Karlsruhe, Dr. phil. 1997 in Karlsruhe. Er ist
Autor zahlreicher Buchveröffentlichungen zur Vorgeschichte und Eskalation
des Zweiten Weltkriegs, sowie zum politischen Antisemitismus in Deutschland,
träger des Gerhard-Löwenthal-Preises für Journalisten 2005, verheiratet und
Vater von zwei Kindern.
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