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»Ich weiß,
wovon ich spreche« Bundespräsident Horst Köhler spürte, daß er nachlegen mußte. Eben hatte er noch aufgeblickt vom Rednerpult im Berliner ICC, dem großen Kongreßzentrum am Funkturm. Mitten in den Saal mit mehr als 1000 Menschen – Vertriebenen, Flüchtlingen und deren Nachkommen – die in Berlin mit dem „Bund der Vertriebenen“ (BdV) den „Tag der Heimat 2006“ feierten. Köhler traf auf Bürger, die schon seit Jahren miterleben, wie sich die Gesellschaft nach und nach für Fragen der deutschen Nachkriegsgeschichte geöffnet hat. Der Blick auf die Ereignisse ist sachlicher geworden, präziser – einige Historiker sprechen schon von einer „Trendwende in der Erinnerungskultur“. Die Erwartungen, die an einen Bundespräsidenten gestellt sind, der zum ersten Mal vor diesem Forum der Vertriebenen spricht, sind hoch. Zwei Sätze aus seinem Manuskript: „Daher tun wir gut daran, auch den Vertriebenen zuzuhören. Nicht nur, um zu erfahren, wie es damals war. Sondern auch, um ihnen zu helfen, mit der Last umzugehen, die ihnen auf der Seele liegt.“ Dann frei gesprochen, über den abgestimmten Redetext hinaus, sagte Köhler in den dankbaren Beifall: „Ich weiß, wovon ich spreche, auch mir liegt ein Stück davon auf der Seele.“ Später wird er mit ein paar Sätzen an den Weg seiner Familie erinnern: Bessarabische Bauern waren die Eltern, die 1940 wegen der Abmachungen im Hitler-Stalin-Pakt das Land zwischen Pruth und Dnister verlassen mußten, es folgten zwei Jahre Lager. Schließlich wurden seine Eltern umgesiedelt nach Polen, „bekamen ein Haus, das die Nazis polnischen Bauern weggenommen hatten (Köhler)“. 1943 wird Horst Köhler in Heidenstein, heute Skierbieszow geboren. Als die Partisanenüberfälle im Distrikt Lublin immer gefährlicher wurden, kam die Familie in ein Auffanglager im Warthegau, dann 1945 Flucht vor der Roten Armee Richtung Leipzig. Später Flucht aus der DDR nach West-Berlin, schließlich siedelten die Köhlers im schwäbischen Ludwigsburg. Horst Köhler braucht nur ein paar Stichworte, um an die Geschichte seiner Familie zu erinnern. Ein Bekenntnis zu einem deutschen Schicksal. Es ist selten, daß ein Bundespräsident seinen nach allen Seiten, auch außenpolitisch abgestimmten Redetext verläßt und frei ergänzt, auch wenn er es wie in diesem Fall bei persönlichen Anmerkungen beläßt. Im übrigen Teil seiner Festansprache folgte Köhler schnurgerade dem Redetext, und damit ebenso schnurgerade den Positionen des politischen Berlin: Er würdigte „Tragödie und Leistung“ der Vertriebenen, aber kein Wort zuviel, das man als seinen Einsatz für ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ deuten könnte, kein Gedanke an einen nationalen Gedenktag, wie ihn BdV-Präsidentin Erika Steinbach eingefordert hatte. Und noch immer kein offenes Wort, das – befreit von Zwängen der Vergangenheit – zeigt, wie man an die Leiden der Deutschen ohne rhetorische Umwege erinnern und damit den Opfern vollen Respekt erweisen kann. Der Bundespräsident warb für ein „Erinnerungswerk, eingebettet in einen europäischen Dialog“, das ist gerade die Minimalformel, auf die sich auch SPD und Union im Koalitionsvertrag geeinigt hatten. Über die Danziger Erklärung von 2003, in der die damaligen Staatsoberhäupter Rau und Kwasniewski den Verzicht auf gegenseitige Schuldaufrechnungen vereinbart hatten, ist man im Berliner Regierungsviertel noch immer nicht hinausgekommen. Deutsche und Polen sind allerdings schon im europäischen Alltagsleben angekommen – sie haben die Nachkriegsordnung der ewigen deutsch-polnischen Themen durch das ersetzt, was nun im Vordergrund steht: Hunderttausende Polen pendeln über die Grenzen und verdienen in den Nachbarländern ihr Geld – Alltag im vereinten Europa. Die postwendende Erregung des polnischen Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski über die Ansprache Köhlers war ohne Bezug zum Ereignis selbst. In Zakopane hatte Kaczynski behauptet, es gebe eine große Unruhe in Polen: „In Deutschland besteht eine große, vom Staat unterstützte Struktur, die ständig die Frage der polnischen Gebiete anspricht, die einst zum Deutschen Reich gehört haben“, meinte der Ministerpräsident. Es ist deutlicher denn je, daß Kaczynski ständig seine Anhänger mobilisiert halten muß; die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hat nur eine sehr schmale politische Basis. Köhler hingegen hatte in Berlin gemahnt, die polnischen Befürchtungen um das geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ „ernst zu nehmen, gerade weil wir sie für unbegründet halten“. Der Festakt unter dem Thema „Menschenrechte achten, Vertreibungen ächten“ lief in souveräner Ruhe, wie kaum ein BdV-Treffen zuvor. BdV-Präsidentin Steinbach warb erneut dafür, in der Ausstellung „Erzwungene Wege“ (noch bis zum 29. Oktober im Berliner Kronprinzenpalais) den europäischen Gedanken zu sehen, dem auch das geforderte „Zentrum gegen Vertreibungen“ gewidmet werden soll. Sie erinnerte zugleich an Peter Glotz, der sich immer auch gegen die Widerstände in der SPD für ein vollständiges Geschichtsbild eingesetzt habe. Glotz wurde ein Jahr nach seinem Tod mit der Ehrenplakette des BdV ausgezeichnet. Steinbach verlangte, daß das „Zentrum gegen Vertreibungen“ als gesamtstaatliche Aufgabe auch die Siedlungsgeschichte und das kulturelle Erbe als Teil der gesamtdeutschen Identität dokumentieren und in Erinnerung halten soll – „damit niemand mehr fragen muß, wo Bessarabien eigentlich liegt“.
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