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Die Annexion 1923

 


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Der lange Anlauf zum Zweiten Weltkrieg
Die Annexion des Memellandes im Januar 1923 - Teil 1
von Brigadegeneral a. D. Gerd Schultze-Rhonhof

Auch der letzte „Anschluß“ vor dem Zweiten Krieg fällt dem Deutschen Reiche in den Schoß. Die litauische Regierung gibt das 1920 abgetrennte Memelland am 22. März 1939 ohne Widerstand an das Reich zurück. Dieser Landzipfel zwischen dem Fluß Memel im Süden und dem Ort Nimmersatt im Norden, der das kleine Litauen nach der geographischen Gegebenheit so ideal ergänzt, ist allerdings vor 1920 niemals im eigentlichen Sinne litauisch gewesen.

In diesem Streifen Landes leben um das Jahr 1000 die Kuren, die als Stamm zum Volk der Letten zählen. Die Litauer sind zu der Zeit nach Osten hin noch hinter dem Siedlungsgebiet der Szamaiten erst übernächste Nachbarn. Im 12. und 13. Jahrhundert missionieren und erobern der Livländische Schwertbrüderorden von Norden und der Deutsche Orden von Süden im Auftrag von Papst und Kaiser die baltischen Gebiete entlang der Ostseeküste. Die Memel ist der Fluß, an dem sich beide Orden treffen. Der Livländische Orden, der ab 1158 von Norden kommend das Gebiet der Kuren unterwirft, schafft mit dem später so genannten Memelland zunächst die Brücke zwischen beiden Ordensterritorien. Später reißt die Verbindung des Ordenslandes in Richtung Lettland nördlich der Stadt Memel wieder ab, und das Memelland wird 1328 dem inzwischen deutsch gewordenen Ostpreußen angegliedert. Die Kuren und die Deutschen dort haben sich inzwischen zu einem Volk gemischt, und Kurisch ist als Sprache in dieser Gegend ausgestorben. So wird das Memelland schon um das Jahr 1200 deutsch.

1252 gründen Ordensbrüder dort, wo die Danje in die Ostsee mündet an einer Stelle, die klajs peda heißt, ihre erste Burg und unmittelbar daneben eine deutsche Siedlung. Klajs peda ist Kurisch-Lettisch und heißt wörtlich „flache Stelle“. Daß die „Memelburg“ der Ordensritter dort die erste Burg an diesem Platze war, ist daraus zu schließen, daß die Kuren ihre Burgen nur auf Höhen bauten. So weist der von den Litauern verwandte Name Klaipeda für die ehemals unter deutscher Souveränität stehende Stadt Memel auf eine kurische Ortsbezeichnung hin und nicht - wie der Anschein das vermittelt - auf eine litauische Burg in grauer Vorzeit.

Von der Gründerzeit von Burg und Ort bis 1409 wird Memel gut ein halbes dutzendmal von Litauern und Kuren angegriffen, erobert und abgebrannt und jedesmal von Deutschen wieder aufgebaut. 1411 im Ersten Thorner Frieden und 1422 im Frieden vom Melno-See wird das Ordensland nördlich der Memel seines Hinterlands beraubt; der Ostteil fällt an Litauen und das Memelland erhält die Grenzen, die es dann unverändert bis 1945 hat. Litauer und Deutsche werden so ab 1411 direkte Nachbarn.

Schon zur Zeit der ersten deutschen Besiedlung wandern getaufte Litauer - wenn auch in geringen Zahlen - von Osten in das Ordensland. Sie sind im damals noch heidnischen Litauen der Verfolgung ausgesetzt und suchen Schutz beim Orden. Drei Jahrhunderte danach, nach der Reformation und der Umwandlung Ostpreußens und des Memellands von einem geistlichen Ordensstaat in ein weltliches Her- zogtum verändert sich die Bevölkerung im Memelland ein weiteres Mal. Der Glaubensdruck der Kirchen und Regenten in Frankreich, in den Niederlanden, in Schottland, in der Schweiz, in Österreich und im katholischen Litauen führt zur Einwanderung vieler Menschen, die im toleranten Preußen weiter zu ihrem Glauben stehen dürfen. Diese Holländer, Schotten, Hugenotten, Salzburger und Litauer tragen zum Volkscharakter der Memelländer bei.

Die Siedler und die Glaubensflüchtlinge aus Litauen müssen wegen ihrer späteren politischen Bedeutung hier besondere Erwähnung finden. Sie behalten ihre Muttersprache, doch sie sind anders als die Menschen ihres Herkunftslandes Protestanten. Zu Ende des Ersten Weltkriegs stellen diese „Kleinlitauer“ im Memelland 48 Prozent der ansässigen Bevölkerung. Trotz der Bezeichnung und trotz der Muttersprache fühlt sich die Mehrheit der Kleinlitauer zum deutschen Kulturkreis und zum Deutschen Reich gehörig. Bei einer Volksbefragung nach den „Familiensprachen“ im Jahre 1922 bekennen sich 71.156 Memelländer zur deutschen und 67.259 zur litauischen Sprache, doch nur 2,2 Prozent der Kleinlitauer wünschen, den Lese- und Schreibunterricht in den Schulen von Deutsch auf Litauisch zu wechseln. Deutsch ist ihre zweite inzwischen angestammte Sprache.

1919 in Versailles beanspruchen die zwei Staaten Polen und Litauen das Memelland für sich. Beide sehen im Zusammenbruch des besiegten Deutschen Reichs die Chance, ihre neu formierten Länder zu Lasten Deutschlands „aufzurunden“. Die Polen wollen ganz Litauen samt Memelland für sich, die Litauer das Memelland mit der Stadt Memel als Tor zur nahen Ostsee. Die litauische Begründung, die in Versailles vorliegt, besagt, daß das Memelland vor 600 Jahren Teil des Großlitauischen Reichs gewesen sei. Daran stimmt, daß das Memelland einmal als integraler Teil Ostpreußens unter dem Lehen der Polnisch-Litauischen Doppelmonarchie gestanden hat. Doch mit der gleichen Qualität von Argument könnte Deutschland heute die Herrschaft über Ungarn fordern.

Die alliierten Siegermächte erfüllen weder Polens noch Litauens Ansprüche auf das Memelland. Sie weisen die These der litauischen Regierung, das Memelgebiet sei früher litauisch gewesen, in der Mantelnote zum Versailler Vertrag vom 19. Juni 1919 schriftlich ab. Auch die deutschen Versuche, das Memelland zu halten, werden von den Siegermächten abgewehrt. Drei Vorstöße der Deutschen Reichsregierung und der memelländischen Volksvertretung im Mai, im August und im September 1919 werden mit der Begründung abgelehnt, das Memelgebiet sei nach Versailler Vertrag nicht mehr Teil des Deutschen Reichs und es könne deshalb mit Deutschland in dieser Sache nicht verhandelt werden.

Ab 1920 nehmen die Versailler Siegermächte das Memelland in einem sogenannten Kondominium unter gemeinschaftliche Herrschaft und lassen es von der Französischen Republik fremdverwalten. Am 14. Februar 1920 trifft die französische Besatzungstruppe, ein knappes Bataillon, in Memel ein. Trotz dieser Änderungen bleiben die Memelländer deutsche Staatsangehörige. Die deutsche Verwaltung setzt ihre Arbeit ohne Unterbrechung fort, desgleichen die Reichsbank und die Deutsche Reichsbahn. Die Post wird selbständig gemacht. Sie benutzt französische Briefmarken mit Überdruck in deutscher Sprache. Ansonsten wird das Memelland ein eigenes, geschlossenes Zollgebiet. Damit hat dies neue Kunstgebilde für drei kurze Jahre keine eigene Staatsbürgerschaft und keine eigene Währung. Doch es ist ringsum von Zollgrenzen eingeschlossen und führt eine eigene Flagge. Das Memelland wird von Deutschland abgetrennt und keinem anderen Staate zugesprochen. Diese Abtrennung ist wohl der sinnloseste und lächerlichste Racheakt der Sieger; ein Zustand, der förmlich nach Veränderung ruft.

In Litauen bleibt das Verlangen nach dem Memelland weiter auf der Tagesordnung. So beschließt die litauische verfassunggebende Versammlung am 11. November 1921, das Memelland mit Litauen zu „vereinigen“. Gut ein Jahr danach, vom 10. bis zum 16. Januar 1923, dringen litauische Bewaffnete ins Memelland ein und vertreiben die Franzosen. Die französische Besatzungstruppe mit etwa 200 Soldaten ist angesichts der 5.000 bis 6.000 angreifenden Litauer auch nicht bereit, sich für ein Stück fremdes Land zu opfern. Die Ständige Botschafterkonferenz der Siegermächte legt Protest ein, und die litauische Regierung beeilt sich, ihr mitzuteilen, daß es sich bei dem Geschehen um einen „Verzweiflungsakt der memelländischen Bevölkerung“ handele. Die Regierung in Kaunas weigert sich jedoch, das Memelland herauszugeben, und die Botschafterkonferenz in Paris beugt sich nach kurzem Sträuben der Gewalt. Sie verlangt zunächst, eine Volksabstimmung über die Zukunft des Memellandes durchzuführen, doch als die Konferenz am 16. Februar beschließt, die Souveränität über das Memelland an Litauen zu übertragen, ist auch das vom Tisch. Damit ist der Versailler Vertrag ein weiteres Mal gebrochen.

Nachdem Litauen dem Völkerbund sein Memelland-Mandatsgebiet mit militärischer Gewalt genommen und die verlangte Volksabstimmung mit Erfolg verhindert hat, schließt die Alliierte Botschafterkonferenz den Vorfall ab, indem sie nachgibt. Doch sie verlangt von Litauen, die Gebietsübertragung vertraglich in einer Konvention zu regeln. Mit jener sogenannten Memelkonvention wird außer dieser Übertragung vor allem eine weitgehende Autonomie der Memelländer in ihrem neuen Staate festgeschrieben. Zur „Memelkonvention“ gehört als Anhang das „Memelstatut“, die Verfassung für das übertragene Gebiet.

Am 8. Mai 1924 wird die Memelkonvention im Namen des Völkerbunds von Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan und Litauen unterzeichnet. Nach Artikel 1 des Memelstatuts bildet das Memelgebiet fortan „eine nach demokratischen Grundsätzen aufgebaute Einheit unter der Souveränität Litauens, der auf den Gebieten der Gesetzgebung, der Rechtsprechung, der Verwaltung und des Finanzwesens innerhalb näher umschriebener Grenzen Autonomie verliehen wird“.

Die litauische Regierung ist jetzt im Memelland durch einen Gouverneur vertreten. Das Land regiert sich durch ein Direktorium selbst. Die Gesetze erläßt der memelländische Landtag. Die Memelländer werden, ohne daß man sie dazu befragt hat, Litauer. Und fortan setzt der Zuzug von litauischen Bürgern aus Litauen ein, die man im Gegensatz zu den bisher dort ortsansässigen Kleinlitauern und Memeldeutschen die Großlitauer nennt.

Die erste Landtagswahl im autonomen Memelland am 29. Oktober 1925 bringt bei 83 Prozent Wahlbeteiligung 94 Prozent der Stimmen für die Parteien der Deutschen Einheitsfront und sechs Prozent für die litauischen Parteien‚ ein bei 48 Prozent litauischen Muttersprachlern erstaun- liches Ergebnis. Mit dem klaren Wählervotum beginnt auch der Verdruß. Der litauische Gouverneur verweigert der 94-Prozent-Mehrheit das Recht, den Regierungschef zu stellen. Er setzt gegen den Protest des Landtags einen Litauer als Vertreter der Sechs-Prozent-Minderheit als Chef des Direktoriums ein. Eine Beschwerde des Landtags beim Völkerbund und die Forderung, der Memelkonvention in dieser Sache Geltung zu verschaffen, finden kein Gehör. Die Memelländer schlucken den Litauer als Chef des Direktoriums, und der Völkerbund verliert in Deutschland ein weiteres Mal an Ansehen und Vertrauen.

Im Dezember 1926 wird die litauische Regierung in Kaunas mit einem Staatsstreich aus dem Amt gejagt. Die Putschregierung verhängt den Belagerungs- und den Kriegszustand über ganz Litauen, also auch übers Memelland. Der Belagerungszustand wird nach ein paar Tagen wieder aufgehoben. Der Kriegszustand mit Kriegsrecht und allen negativen Begleiterscheinungen bleibt bis 1938 erhalten. Er wird im Memelland erst dann auf Drängen der deutschen Reichsregierung wieder aufgehoben.

Die Folgejahre bleiben für die memelländische Bevölkerung und die Litauer eine Zeit der unerfreulichen Auseinandersetzungen. Die Litauer werfen den Memelländern mangelnden Integrationswillen und Illoyalitäten vor. Die Memelländer beklagen eine nicht endende Kette von Verstößen der Litauer gegen die Memelkonvention. Es gibt Streit über die Benutzung des Deutschen als Schul- und zweite Amtssprache, über die Verwaltung des Memeler Hafens, über die staatliche Finanzausstattung des autonomen Memelgebiets, über die vom Staat zu leistenden Pensionszahlungen, über litauische Gerichtsurteile ohne Verfahren und Anhörung, über die konventionswidrigen Anwendungen des Kriegsrechts, über die wiederholte Absetzung des deutsch-memelländischen Chefs des Direktoriums, über die Pressezensur, über die Verhaftung von Landtagsabgeordneten, über die ständige Blockierung von Landtagsgesetzen durch den litauischen Gouverneur und so weiter und so fort.

weiter zu Teil II



Brigadegeneral a. D. Gerd Schultze-Rhonhof: Der Buchautor wollte wissen, was die Generation seines Vaters dazu bewegte, nur 20 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg Adolf Hitler in einen neuen Krieg zu folgen. Das Ergebnis ist sein Buch „1939 - Der Krieg, der viele Väter hatte“. Die Beiträge unserer Reihe „Der lange Anlauf zum Zweiten Weltkrieg“, basieren weitestgehend auf diesem Werk.
 

Quelle:
Preußische Allgemeine Zeitung / Das Ostpreußenblatt, Folge 25, 21.6.2003. Seite 5

Ein unvermeidlicher Krieg? - Der Weg zum 1. September 1939
Vortrag von Gerhard Schultze-Rhonhof aus dem Jahre 2004 zur Buchvorstellung
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