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Yorck zu Clausewitz: »Ihr habt mich« Fünf Jahre nach dem Abschluß des Friedens von Tilsit, der den Vierten Koalitionskrieg von 1806/1807 beendet hatte, begann der französische Überfall auf Rußland. Allerdings begannen sich schon drei Jahre nach dem Friedensschluß die französisch-russischen Beziehungen merklich zu verschlechtern. Napoleon verärgerte Rußland in der polnischen Frage. Nach dem Fünften Koalitionskrieg von 1809 erweiterte er das 1807 in Tilsit aus preußischen Abtretungen geschaffene Herzogtum Warschau um das österreichische Westgalizien und Krakau und weigerte sich, einen Vertrag mit Rußland zu unterzeichnen, in dem er sich verpflichtete, auf die Wiederherstellung des polnischen Königtums zu verzichten. Ein großer polnischer Nationalstaat war jedoch das letzte, was Zar Alexander sich mit seiner polnischen Minderheit wünschte. Zudem annektierte Bonaparte 1810 neben den Niederlanden mit anderen nordwestdeutschen Staaten auch das Großherzogtum Oldenburg, mit dessen Herrscherhaus der Zar verwandt war. Last but not least lastete die Beteiligung an der Kontinentalsperre schwer auf der zurückgebliebenen russischen Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund beschloß der Zar zur Jahreswende 1810/1811 eine spürbare Lockerung der Kontinentalsperre, um es gelinde zu formulieren. Er ließ neutrale Schiffe mit britischer Ware nicht mehr konfiszieren. Zudem erhöhte er den Zoll auf den Import von Luxuswaren, was vor allem Frankreich als Produzenten und Exporteur von Luxusprodukten traf. Es schien nun auf einen russisch-französischen Krieg hinauszulaufen. Wie würde sich Preußen entscheiden? Als Staat zwischen Frankreich und Rußland schien eine Neutralität schwierig. Gegen den Rat der Patrioten-Partei und Staatskanzler Hardenbergs entschied sich der König für Frankreich. Friedrich Wilhelm III. hatte halt vor Napoleon mehr Angst als vor Alexander. Unter dem Druck eines Ultimatums Bonapartes wurde in Paris am 24. Februar 1812 ein zu Recht als Unterwerfungsvertrag bezeichneter Bündnisvertrag unterzeichnet, in dem sich Preußen unter anderem verpflichtete, 20.000 Soldaten für den bevorstehenden Rußlandfeldzug Frankreichs zu stellen. Am 24. Juni 1812 begann der französische Überfall. In der Mitte die Hauptarmee unter Bonaparte, im Süden die Österreicher, die auch mit den Franzosen verbündet, aber ungleich selbständiger als die Preußen waren, und im Norden ein Korps unter dem Befehl des französischen Marschalls Macdonald. Zu diesem Korps gehörten auch die 20.000 Preußen. Der Verlauf des Rußlandfeldzuges ist bekannt. Am 14. September 1812 zog Napoleon in Moskau ein, und noch am selben Tag fing Moskau an zu brennen.
Die Grande Armée mußte den Rückzug antreten, der zur Katastrophe wurde. Beim Rückzug hatte das preußische Hilfskorps unter Yorck von Wartenburg das Glück, daß es die Fühlungnahme, zeitweise sogar den Kontakt zu Macdonalds Franzosen verlor, was Yorck unabhängige Entscheidungen ermöglichte. Die Russen versuchten, die gegnerische Koalition zu sprengen. Dafür bot sich ein Ansatz beim unsichersten Kantonisten an. Das waren neben den Österreichern vor allem die Preußen, denn dieser Krieg war nicht ihr Krieg – zumindest nicht auf Seiten Frankreichs. Dieses hatten auch viele preußische Patrioten erkannt und deshalb nach dem französischen Unterwerfungsvertrag vom 24. Februar 1812 den Dienstherrn gewechselt, weg vom preußischen König, hin zum russischen Zaren. Diese preußischen Patrioten in russischen Diensten – an der Spitze Männer wie Stein, Clausewitz oder Friedrich Dohna – halfen den Russen bei dem Versuch, die Preußen aus der napoleonischen Koalition herauszubrechen. Vom 1. November bis zum 22. Dezember 1812 unternahmen die Russen nicht weniger als sieben Versuche, den Kommandeur des preußischen Kontingents Yorck zur Einstellung der Kampfhandlungen gegen die Russen zu bewegen. Der konservative Preuße mochte die Franzosen nicht, weil er wußte, was sie seinem Land angetan hatten und noch antaten, doch er sah eine durchaus realistische Gefahr. In Rußland gab es eine Tendenz, die Kampfhandlungen einzustellen, wenn man die russische Grenze erreicht hatte, wenn man den Aggressor aus dem eigenen Land vertrieben hatte. Wenn Preußen sich nun vorher durch einen Ausstieg aus der napoleonischen Koalition kompromittierte, bestand die Gefahr, daß Bonaparte nach dem Ende des Rußlandfeldzuges und der Kampfhandlungen mit den Russen sich an den Preußen für deren „Untreue“ rächte und die Russen seelenruhig, Gewehr bei Fuß, an der russischen Grenze zusahen. Diese Gefahr war nur gebannt, wenn sich die Russen nicht auf die Befreiung ihres Landes beschränkten, sondern anschließend auch sein Land, sprich Preußen, befreiten. Ganz in Yorcks Sinne schrieb der Zar Alexander am 6. Dezember 1812 an seinen General Paulucci: „Es wäre möglich, daß General Yorck … den Wunsch äußerte, Meine Ansichten in Betreff der Vortheile zu erfahren, die der König von Preußen haben würde, wenn er sich entschiede, gemeinsame Sache mit Mir zu machen. In diesem Falle antworten Sie ihm, daß Ich geneigt sei, mit diesem Fürsten einen Vertrag zu machen, in dem festgestellt würde und Ich gegen ihn die Verpflichtung übernähme, nicht eher die Waffen niederzulegen, als bis es mir gelungen wäre, für Preußen eine Gebietsvergrößerung durchzusetzen, groß genug, um es unter den Mächten Europas die Stelle wieder einnehmen zu lassen, die es vor dem Kriege von 1806 gehabt hat.“ Das war das, was Yorck wollte. Nun mußte Yorck nur noch über diesen Brief informiert werden. Das geschah am 26. Dezember 1812. Yorck hatte als Preuße verständlicherweise zu seinen Landsleuten auf russischer Seite mehr Vertrauen als zu den Russen und deshalb um Preußen als Parlamentäre gebeten. Am zweiten Weihnachtstag kam Friedrich Dohna mit einer Abschrift des Zarenbriefes vom Nikolaustag zu ihm. Wie Yorck reagierte, wissen wir aus einem Bericht von Dohna an Paulucci:
Der letzte Satz weist auf ein Problem hin, das heutigen Zivilisten vielleicht erklärungsbedürftig ist. Yorck war nicht nur ein politisch denkender Kopf, sondern auch ein konservativer preußischer Soldat, und da gibt es Regeln. Im Kriege kann ein Soldat nicht so ohne weiteres das Kämpfen einstellen. Da ist schnell die Grenze zum Verrat überschritten. Im Idealfall liegt der Befehl eines Vorgesetzten vor, die Kampfhandlungen einzustellen. Mit einem derartigen Befehl konnte Yorck vom französischen Marschall nicht rechnen. Deshalb kam nur die zweite Möglichkeit in betracht: eine militärisch hoffnungslose Situation, in der Weiterkämpfen sinnlos ist. Eine derartige Situation herzustellen, erwartete Yorck von den Russen. In diesem Falle war er bereit, in die Neutralität zu wechseln, zwar nicht in der Form eines Vertrages, der seinen König längerfristig band – dazu sah Yorck sich nicht befugt –, aber doch immerhin in der Form einer kurzfristigen Konvention. In diesem Sinne entwarf Yorck eine Antwort auf die von Dohna überbrachte Botschaft:
Macdonald drohte jedoch Yorck einen Strich durch die Rechnung zu machen. An jenem 29. Dezember erreichte den Preußen nämlich eine Nachricht des Franzosen, daß dieser ihn unverzüglich in Tilsit erwarte. Yorck war ob dieses französischen Befehls verständlicherweise erbost. Er hatte sich das so schön gedacht. In aller Ruhe wollte er sich von den Russen auf dem Weg nach Tilsit einkreisen lassen. Wenn er nun aber dem französischen Befehl nachkam, sofort nach Tilsit zu kommen, dann war er mit den Franzosen vereint, bevor die Russen auch nur die Chance bekommen hätten, ihn einzukreisen. Wenn Yorcks Hilfskorps dann mit Macdonalds Franzosen zusammen war, war auch die Chance vertan zu einer selbständigen Verständigung mit den Russen. Die Lösung des Dilemmas bestand darin, daß die Russen Yorck damit drohen konnten, Preußen und Franzosen gemeinsam im Raum Tilsit einzukreisen. Einen entsprechenden Einschließungsbefehl erteilte der russische Stabschef d’Auvray den deutschstämmigen russischen Kommandeur Diebitsch. Sollte der Befehl befolgt werden, wäre die von Yorck geforderte militärische Ausweglosigkeit gegeben. Am 29. Dezember 1812 suchte Clausewitz Yorck mit dem schriftlichen russischen Einschließungsbefehl und der russischen Aufforderung auf, nun endlich eine Vereinbarung über die Neutralität der Preußen abzuschließen. Yorck war ob Macdonalds Befehl und der Tatsache, daß die Russen nicht verhindert hatten, daß er ihn erhalten hatte, und nicht verhindern konnten, daß er ihn ausführte, verdrießlicher Stimmung und empfing Clausewitz mit den Worten: „Bleibt mir vom Leibe, ich will nichts mehr mit euch zu thun haben. Eure verdammten Kosacken haben einen Boten Macdonalds durchgelassen, der mir den Befehl bringt, auf Piktupöhnen zu marschieren und mich dort mit ihm zu vereinigen. Nun hat aller Zweifel ein Ende; eure Truppen kommen nicht an, ihr seid zu schwach, ich muß marschiren und verbitte mir jetzt alle weiteren Unterhandlungen, die mir den Kopf kosten würden.“ Clausewitz bediente sich einer List, um zu erreichen, daß Yorck trotzdem d’Auvrays Einschließungsbefehl zur Kenntnis nahm. Er packte seinen Landsmann bei dessen Ehre und stellte die Suggestivfrage: „Ew. Excellenz werden mich doch nicht in die Verlegenheit setzen wollen, abzureisen, ohne meinen Auftrag ausgerichtet zu haben?“ Yorck blieb nichts anderes übrig, als sich von Clausewitz über den Befehl informieren zu lassen. Anschließend fragte Yorck seinen Generalstabschef nach dessen Meinung. Dieser antwortete, für den Staat, für das Vaterland könne nichts heilvoller sein, als wenn er mit den Russen abschließe; für ihn persönlich aber sei alles dabei gewagt, weshalb er selbst seinen Entschluß fassen müsse. Vor seiner Entscheidung fragte Yorck noch einmal Clausewitz, ob die Russen nicht nur bluffen: „Clausewitz, Sie sind ein Preuße; glauben Sie, daß der Brief des Generals d’Auvray ehrlich ist, und daß sich die Wittgensteinschen Truppen am 31. wirklich auf den genannten Punkten befinden werden? Können Sie mir Ihr Ehrenwort darauf geben?“ Clausewitz antwortete: „Ich verbürge mich Ew. Excellenz für die Ehrlichkeit des Briefes nach der Kenntnis, die ich von General d’Auvray und den übrigen Männern des Wittgensteinschen Hauptquartiers habe; ob diese Disposition so ausgeführt sein werden, kann ich freilich nicht verbürgen; denn Ew. Excellenz wissen, daß man im Kriege oft mit dem besten Willen hinter der Linie zurückbleiben muß, die man sich gezogen hat.“ Das genügte Yorck. Er reichte Clausewitz die Hand und sagte: „Ihr habt mich. Sagt dem General Diebitsch, daß ich mich morgen früh bei den russischen Vorposten einfinden werde; Zeit und Ort habe er zu bestimmen.“ Die Entscheidung war gefallen. Am darauffolgenden Morgen unterzeichnete Yorck mit Diebitsch in der Poscherunschen Mühle bei Tauroggen jene denkwürdige Konvention, die das von ihm kommandierte preußische Kontingent der Grande Armée in die Neutralität führte und damit Ostpreußen den Russen öffnete. Der erste Schritt auf dem Weg der Preußen von der französischen zur russischen Seite, der Europa die Befreiung vom napoleonischen Joch brachte, war getan. Die Konvention von Tauroggen vom 30. Dezember 1812 Artikel 1. Das Preußische Korps besetzt den Landstrich innerhalb des Königlichen Territoriums längs der Grenze von Memel und Nimmersatt bis zu dem Wege von Woinuta nach Tilsit; von Tilsit macht ferner die Straße über Schillipischken und Melanken nach Labiau, die Städte dieser Straße mit eingeschlossen, die Grenze desjenigen Territoriums, welches dem Korps hierdurch eingeräumt wird; das Kurische Haff schließt auf der andern Seite dieses Territorium, welches während der Preußischen Besetzung als völlig neutral erklärt und betrachtet wird. Die Kaiserlich Russischen Truppen behalten jedoch einen freien Durchmarsch auf den vorgenannten Grenzstraßen, können aber in den Städten kein Quartier verlangen. Artikel 2. In diesem, in vorstehendem Artikel bezeichneten Landesstrich bleibt das Preußische Korps frei zu den eingehenden Befehlen Se. Majestät des Königs von Preußen neutral stehen, verpflichtet sich aber, wenn höchstgedacht Se. Majestät den Zurückmarsch des Korps zur französischen Armee befehlen sollten, während eines Zeitraumes von zwei Monaten, vom heutigen Tage an gerechnet, nicht gegen die Kaiserlich Russischen Armeen zu dienen. Artikel 3. Sollten Se. Majestät der König von Preußen oder Se. Majestät der Kaiser von Rußland die Allerhöchste Bestimmung versagen, so soll dem Korps ein freier ungehinderter Marsch auf dem kürzesten Wege, dahin wo Se. Majestät der König bestimmt, freigestellt bleiben … Abgeschlossen in der Mühle von Poscherun bei Tauroggen / Kurland zwischen dem kaiserlich-russischen General-Major und General-Quartiermeister Johann Karl Friedrich Anton von Diebitsch und dem königlich-preußischen Generalleutnant und kommandierenden General des preußischen Hilfskorps Hans David Ludwig Yorck von Wartenburg, 30. Dezember 1812
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