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Der Wehrdienst wird zur Ehrensache Der Fisch fängt bekanntlich vom Kopf an zu stinken. Und so war es konsequent, daß man das preußische Offizierskorps nach der schmachvollen Niederlage gegen Frankreich im Vierten Koalitionskrieg von 1806/07 einer Säuberung unterzog. Hierfür wurde vor 200 Jahren, am 27. November 1807, eine „Kommission zur Untersuchung der Kapitulationen und sonstigen Ereignisse des letzten Krieges“ berufen. An ihrer Spitze standen die beiden Königsbrüder Prinz Wilhelm und Prinz Heinrich. Weitere Mitglieder waren der Chef der Militärgerichtsbarkeit, Generalauditeur Johann Friedrich von Koenen, Oberstleutnant Neidhardt von Gneisenau und der junge Major Karl Wilhelm von Grolmann. Dieser Säuberungsprozeß zog sich bis zum Beginn des Rußlandfeldzuges im Sommer 1812 hin. Von den 7.000 Offizieren des Jahres 1806 mußten 208 aus dem Dienst ausscheiden, neben 141 Truppenoffizieren auch 50 Stabsoffiziere und immerhin 17 Generale. Sieben Todesurteile wurden ausgesprochen, von denen allerdings sechs durch den König in Festungshaft umgewandelt wurden und das siebte nicht vollstreckt werden konnte, weil der Verurteilte der vormalige Kommandant der Festung Küstrin, sich unehrenhaft nach Sachsen abgesetzt hatte. Nach der Befreiung vom napoleonischen Joch, nach dem ersten Pariser Frieden, der am 30. Mai 1814 die Befreiungskriege beendete, gab es eine königliche Generalamnestie für die noch in Festungshaft Sitzenden. Mit ehrenvoller Entlassung, aber sehr geringen Pensionen verabschiedete man außerdem ungefähr drei Viertel der bisherigen Offiziere, meist die älteren. Von den 143 Generälen von 1806 waren 1813 nur noch Gebhard Leberecht von Blücher und Friedrich Graf Tauentziehn im Dienst. Mit der Bestrafung des Fehlverhaltens einzelner Individuen und deren Entfernung aus der Armee war es jedoch nicht getan. Die Krise der preußischen Armee war nämlich struktureller Natur, und es galt Wiederholungen des stattgefundenen Versagens für die Zukunft auszuschließen. Hierzu schuf der König eine Militärreorganisationskommission unter der Leitung des damaligen Generalmajors Gerhard von Scharnhorst. Vor der Therapie steht die Diagnose, und das galt auch für die Scharnhorst-Kommission und ihren Patienten, die preußische Armee. Die Ursachen für die preußische Niederlage im Vierten Koalitionskrieg sind vielfältig. Zwei entscheidende seien hier herausgegriffen. Da ist zum einen die mangelnde Motivation, die sich signifikant vor allem in der kampflosen Übergabe preußischer Festungen an heranrückende Franzosen zeigte. Welch ein Gegensatz zum französischen Gegner, der seit der Französischen Revolution – zumindest von der Idee her – wie folgt aussah: ein Volksheer, in dem Angehörige aller Schichten erst für die Ideale der Revolution gekämpft hatten und nun für Frankreichs Größe und ihren Kaiser kämpften, geführt von den militärisch Begabtesten der Nation. Und wie war es bei den Preußen? In der Masse eine Unterschichtenarmee aus gepreßten Landeskindern und ausländischen Söldnern, geführt von Adeligen, die sich durch Herkunft und Dienstalter auszeichneten. Und mit diesem Heer stand der preußische König alleine der französischen Nation gegenüber, einschließlich dem französischen Bürgertum, während das preußische Bürgertum sich heraushielt, sich darauf beschränkte, Steuern zu zahlen und damit zur Finanzierung der königlichen Armee beizutragen. Ohne Not hatte der König Preußens auf die Kampfkraft und die Geisteskraft des Bürgertums verzichtet und sich mit dessen Steuern begnügt. Und das nicht etwa, weil sich das Bürgertum verweigert hätte. Vielmehr entsprach das Verhalten der Bürger nur der königlichen Erwartung, wie sie in den aus den Schulbüchern bekannten Worten zum Ausdruck kommt: „Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht!“ Das wollte die Scharnhorst-Kommission ändern. Sie setzte sich für eine Wehrpflicht aller Preußen einschließlich der Bürger ein, die sogenannte allgemeine Wehrpflicht. Die Kommission hätte sich nun darauf beschränken können zu fordern, daß so wie bisher schon die Söhne der Unterschichten nun auch die Bürgersöhne in die Armee gepreßt werden. Das war jedoch nicht empfehlenswert. Zum einen wäre das nur schwer gegen das Bürgertum durchsetzbar gewesen. Zum anderen wäre das keine Lösung des Motivationsproblems gewesen. Wir alle wissen von Bummelstreiks, zu welch miserablen Arbeitsergebnissen Dienst nach Vorschrift führt. Der Trick, welchen die Kommission ersann, bestand darin, die Bevölkerung im allgemeinen und das Bürgertum im besonderen davon zu überzeugen, daß der Dienst an der Waffe weniger eine lästige Pflicht sei, der man nachzukommen habe, als vielmehr eine Ehre. Wenn man jedoch den Militärdienst auch nur halbwegs glaubhaft als Ehrendienst vermitteln wollte, mußten einige Bedingungen erfüllt sein. Dazu gehörte beispielsweise ein verteidigungswürdiger Staat mit Partizipationsmöglichkeiten. Diesen zu schaffen, hatten sich die politischen Staatsreformer um Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und Karl August von Hardenberg vorgenommen. Dazu gehörte aber auch Wehrgerechtigkeit. Aus dem Kreise der Bourgeoisie kam nämlich die Forderung, daß man sich vom Dienst freikaufen kann, indem man einen Stellvertreter stellt beziehungsweise finanziert. Scharnhorst erteilte derartigen Forderungen jedoch eine Abfuhr. Er argumentierte, wie solle man einem armen Bürger vermitteln, daß sein Militärdienst eine Ehre sei, wenn sich der reiche Bürgersohn davon freikaufen könne. Schwer wäre es auch gewesen, einem Bürger zu vermitteln, daß er mit seinem Leben für einen Staat einstehen soll, der ihm den Dienst als Offizier vorenthält. Die Scharnhorst-Kommission schlug denn auch vor, den Bürgerlichen wie den Adeligen die Offizierskarriere zu öffnen. Freie Bahn dem Tüchtigen. Diese Öffnung des Offiziersberufes ließ auch eine Verbesserung der militärischen Führung erhoffen, da nun ein größeres Reservoir für den Führungsnachwuchs zur Verfügung stand. Um eine Motivation für Leistung zu geben und den Geeignetsten einen schnellen Aufstieg an die Spitze zu ermöglichen, schlug die Kommission des weiteren vor, nicht mehr, wie bisher üblich, nur nach Dienstjahren zu befördern. Das Ergebnis war das „Reglement über die Besetzung der Stellen der Portpéefähnriche und über die Wahl der Offiziere bei der Infanterie, Kavallerie und Artillerie“ vom 6. August 1808, wo es heißt: „Einen Anspruch auf Offiziersstellen sollen von nun an in Friedenszeiten nur Kenntnisse und Bildung gewähren, in Kriegszeiten ausgezeichnete Tapferkeit und Überblick. Aus der ganzen Nation können daher alle Individuen, die diese Eigenschaften besitzen, auf die höchsten Ehrenstellen im Militär Anspruch machen. Aller bisher Statt gehabter Vorzug des Standes hört beim Militär ganz auf, und jeder, ohne Rücksicht auf seine Herkunft, hat gleiche Pflichten und Rechte.“ Wollte man, daß der Bürger auch den Dienst als Gemeiner und Unteroffizier als Ehre empfand, mußte die Armee grundlegend reformiert werden. Denn bis dahin fing in ihr der Mensch erst mit dem Leutnant an. Die Armee mußte also humanisiert werden. Gneisenau forderte in einem gleichnamigen Artikel im Königsberger „Volksfreund“ vom 8. Juli 1808 die „Freiheit des Rückens“ (siehe Kasten). Die Scharnhorst-Kommission teilte diese Ansichten ihres Mitgliedes Gneisenau. Das Ergebnis war die Humanisierung des Militärs und des Militärdienstes. Die Prügelstrafe und andere entehrende Strafen wurden als Regelstrafen abgeschafft. Die Todesstrafe wurde auf wenige Vergehen beschränkt. Diese Humanisierung des Soldatendaseins kann neben der allgemeinen Wehrpflicht und dem Marschallstab im Tornister auch des Nichtadeligen als dritte militärpolitische Säule der preußischen Heeresreform betrachtet werden. Die unter Scharnhorsts Führung erstrebte und auch auf den Weg gebrachte Umwandlung der preußischen Armee, deren Masse aus gepreßten Inländern und ausländischen Söldnern bestand, welche den Dienst als eine Strafe empfinden mußten, hin zu einer Volksarmee, in der die Landeskinder aus Überzeugung Dienst tun, ermöglichte vollkommen neue Taktiken und Befehlsstrukturen. Dem Soldaten konnten nun viel größere Spielräume eingeräumt werden, weil die Hoffnung bestand, daß er sie im Sinne der Armee, in der er Dienst tat, nutzen würde. Dieses galt um so mehr, als die Hoffnung bestand, daß sich das geistige Niveau der Truppe durch die Bürgersöhne erhöhen würde und damit auch die Fähigkeit zu selbständigem, eigenverantwortlichem Denken und Handeln. Damit war die Voraussetzung für die Auftragstaktik gegeben, eine Taktik, welche die preußisch-deutsche Armee fürderhin auszeichnete. Auch der Übergang von der starren Lineartaktik hin zu den aufgelösten Schützenketten war nun möglich, da nicht mehr die Gefahr bestand, daß sich die Soldaten bei erstbester Gelegenheit zurückfallen lassen und in die Büsche schlagen. Die neue Taktik erforderte eine neue Ausbildung. Der geistlose, uniforme Drill auf dem Kasernenhof wurde zurückgefahren zugunsten einer gefechtsnahen Ausbildung außerhalb der Kaserne im Feld. Realitätsnahe Manöver wurden eingeführt. Statt des geistlosen „Knallens“, wie Scharnhorst es nannte, wurde Zielscheibenschießen geübt. Abgesehen von den drei militärpolitischen Reformen, der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, der Öffnung des Offizierskorps für Nichtadelige und der Humanisierung der Truppe hat die Militärkommission auch militärische Reformen auf den Weg gebracht, die politisch weniger bedeutend waren, aber nichtsdestoweniger wegweisend. Um die Ausbildung des Offizierskorps zu verbessern, wurde in der Hauptstadt eine zentrale Ausbildungseinrichtung geschaffen, die Kriegsschule für Offiziere, die spätere Allgemeine Kriegsschule. Um die Entscheidungen der Oberbefehlshaber der Gesamtarmee und der einzelnen Armeekorps auf fundierte Informationsgrundlagen zu stellen, wurden Generalstäbe geschaffen, die Informationen zusammentrugen und Pläne entwickelten. Um das Kompetenzchaos zu beenden, wurde eine neue militärische Führungsinstanz geschaffen, das Kriegsministerium, das es bis dahin noch nicht gab. Nun lief nicht mehr alles beim König zusammen, sondern schon unterhalb von ihm im Ministerium. Insofern kann man von den drei genannten Reformen diese vielleicht noch am ehesten auch als politisch bezeichnen, da sie die Stellung des Königs tendenziell schwächte. Bei aller möglichen Euphorie über die Fortschrittlichkeit der preußischen Heeresreformer sollte jedoch nicht übersehen werden, daß der von ihnen geforderte und geförderte Übergang vom absolutistischen Kabinettskrieg zum Volkskrieg mit seinen aufgeputschten Emotionen, dem von den Soldaten geforderten sogenannten Enthusiasmus, sowie dem ebenfalls geforderten sogenannten kleinen Krieg, was nichts anderes bedeutet als Guerillakrieg, zu einer Totalisierung des Krieges beitrug. Nicht nur daß die Zahl der Kombattanten, der Kriegsteilnehmer durch die allgemeine Wehrpflicht zunahm, die Zivilisten wurden auch stärker involviert, weniger geschützt. So wurde zum Beispiel im Rahmen der Heeresreform eine „Verminderung und Vereinfachung der Bagage“ gefordert. Hintergrund der Forderung war, daß im vorausgegangenen Vierten Koalitionskrieg die preußischen Streitkräfte alles, was sie brauchten, mit sich herumgeschleppt hatten. Das hatte sie sehr immobil, sehr unbeweglich gemacht. Die Franzosen hatten vergleichsweise wenig dabei. Sie hatten sich das, was sie brauchten, im Zweifelsfall einfach von den wehrlosen Zivilisten geholt. Das wollten nun auch die Preußen machen. Im Dreißigjährigen Krieg nannte man das: „Der Krieg muß den Krieg ernähren.“ Sicherlich aus heutiger Sicht ein moralisch sehr fragwürdiger Fortschritt. Vorsichtig ausgedrückt ambivalent zu beurteilen ist auch der allerdings nie Realität gewordene Vorschlag der Militärreorganisationskommission, einen vormilitärischen Unterricht in den allgemeinen Stadtschulen einzuführen. Wer denkt da nicht erschrocken an die DDR? Wie dem auch sei. Die ganze preußische Heeresreform geschah ja nicht aus Jux und Tollerei. Sie sollte vielmehr die Wehrkraft, die Kampfkraft, den Kampfwert des preußischen Heeres erhöhen. Verständlicherweise war die Besatzungsmacht, der Sieger von Tilsit, hiervon weniger begeistert. Nolens volens nahm Preußen bis zum offenen Bruch mit Paris 1813 hierauf Rücksicht. Vor allem die Wehrpflicht wollte Frankreich für Preußen verhindert wissen, wußte es doch aus eigener Erfahrung, wie militärisch effektiv dieses Mittel war. In der Pariser Konvention vom 8. September 1808 war die Friedensstärke des preußischen Heeres auf 42000 Mann begrenzt worden. Eine pfiffige Aushilfe stellte in dieser Situation das sogenannte Krümper-System dar. Soldaten wurden beurlaubt und auf ihren Stellen wurden im schnellen Wechsel für je einen Monat andere Männer ausgebildet. Diese Ausbildung war zwar etwas kurz, aber man konnte auf diese Weise doch eine beträchtliche Anzahl an gedienten Reservisten gewinnen. 1813 war endlich Schluß mit dem Versteckspiel. Preußen erklärte Frankreich wenig verblümt den Krieg. Die Reglementierungen waren damit obsolet. Die allgemeine Wehrpflicht für Männer wurde eingeführt. 1813 noch auf die Zeit des Krieges beschränkt, wurde sie noch während der Befreiungskriege 1814 auf die Friedenszeit ausgedehnt. »Freiheit des Rückens« „… Wenn ein gerechtes Gesetz Pflichten und Ansprüche mit Unparteilichkeit über alle Stände verteilt und den Sohn des Königlichen Rates ebensowohl den Reihen der Vaterlandsverteidiger beigesellt als den Pflüger und Tagelöhner, so wird es nötig, die für rohere Naturen und für ein rohes Zeitalter erfundenen Strafarten der fortgeschrittenen Bildung mehr analog abzuändern und wohlerzogene junge Männer vor der Möglichkeit zu schützen, von übelwollenden Vorgesetzten mißhandelt zu werden. Die Proklamation der Freiheit der Rücken scheint also die Verallgemeinerung der Waffenpflichtigkeit vorangehen zu müssen. Dünkt dies nicht möglich, nun, so laßt uns Verzicht tun auf unsere Ansprüche an Kultur und die Bewegungsgründe zum Wohlverhalten noch fernerhin im Holze suchen, da wir sie im Ehrgefühl nicht zu finden vermögen …“ August Neidhardt v. Gneisenau
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