|
|
Leipzig 2000: Größere Veränderungen tragen bekanntlich immer ein Risiko in sich, weil sie von ihren Wirkungen her nicht so ohne weiteres zu überschauen sind. Insofern war das Verlegen des Deutschlandtreffens der Ostpreußen von Düsseldorf in die sächsische Handels- und Messestadt Leipzig ein Wagnis. Doch spätestens nach der Verleihung der Kulturpreise bestätigte sich eindrucksvoll, daß die Veranstalter ein Gespür für neue Möglichkeiten besitzen. Und in der Tat, wer immer sich in diesen beiden Tagen auf dem Messegelände umtat, konnte sich davon überzeugen, daß insbesondere der Zustrom von Ostpreußen aus den mitteldeutschen Ländern die Veranstaltungen bereicherte und sogar die Organisatoren angesichts des übergroßen Andrangs in unerwartete Bedrängnis an den Kiosken brachte. In diese erfreuliche Tendenz des Interesses gehört auch der geradezu drängende Anspruch der neuen Besucher, die durch das SED-Regime und den nachfolgenden dünnfließenden Zeitgeist entstandenen Wissenslücken auszugleichen. Die Aussteller der Verlage dürften dies bei Kassenschluß dankbar registriert haben und zugleich die Anregung in ihre Heimatorte mitgenommen haben, daß das Thema Vertreibung und ihre politischen Hintergründe noch keineswegs erschöpft scheint. Insofern erfaßte die Rede des Sprechers, die sich kenntnisreich insbesondere am historisch-politischen Hintergrund der Vertreibung ausgerichtet hatte, in ihrer Ganzheit die Sinnmitte dieses beklagenswerten Defizits, das Bekanntlich nicht nur in Mitteldeutschland vorherrscht. Dies dürfte nicht ohne Folgen bleiben, denn die Tatsache der Vertreibung und ihre politische Motivation sind auch nach über fünf Jahrzehnten keine ferne historische Episode, sondern bedürfen nur des Anstoßes der Wissenden. Der Hinweis des Sprechers der LO, daß die Erlebnisgeneration der Vertriebenen noch "viel zuwenig bekannt hat, was ihr widerfahren ist", markiert die bildungspolitische Ausgangslage der Nachgewachsenen. Mit nicht geringer Bitternis dürften die Vertriebenen registriert haben, daß selbst bei wohlwollender Berichterstattung sächsischer Medien gravierende Fehler offenbar wurden, die die Kenntnisarmut erschreckend anzeigt So schrieb die "Leipziger Volkszeitung", gewiß zum Erstaunen vieler Leser, daß nach dem Ende des Kriegs "rund zehn Millionen Ostpreußen in das Gebiet der Bundesrepublik gekommen seien". Man dürfte den Verantwortlichen der Redaktion einige Semester jüngste Geschichte nahelegen und anschließend breit angelegte Serien über ostdeutsche Geschichte. Würde nachhaltig umsatzsteigernd wirken ... Von daher fand denn auch das Motto "Ostpreußen – für friedlichen Wandel" seine polarisierende Ergänzung in der Rede des Sprechers der LO, denn Veränderung ist nur da sinnvoll möglich, wo das Wissen um die Ursachen der Dinge nicht ausgespart bleibt. Ungeachtet der im Zuge der seit 1990 eingetretenen Entwicklung in Europa, so Wilhelm v. Gottberg, komme es nunmehr darauf an, daß sich die Politik am Recht orientiere, woraus sich schließlich sechs Hauptpunkte als allernächste Forderungen formulieren ließen. Dazu gehören die Rückkehrmöglichkeit der Vertriebenen und ihre gleichberechtigte Existenz in der Heimat, Aufhebung der Vertreibungsdekrete und die Einbeziehung Vertriebener in den Dialog mit den Vertreibern, Minderheitenrechte, Ahndung der Vertreibungsverbrechen und Gleichbehandlung mit den Zwangsarbeitern aus der NS-Zeit. Dieser Grundlagenkatalog scheint unerläßlich zu sein, wenn das Wort von den gleichberechtigten Nationen in Europa nicht zu Phrase verkommen soll. Er scheint zugleich auch ein Rüstzeug zu sein für das berechtigte Anliegen der LO und der in ihr vertretenen Landsleute, denn "nur im Schwimmen gegen den Strom bewahren die Ostpreußen ihre Einzigartigkeit".
|
|