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Immer noch leben Täter
17-facher Mord an Deutschen bei Iglau aufgeklärt −
Tschechen stellen sich immer öfter der Vergangenheit
von Wolf Oschlies
Nach
65 Jahren des Verdrängens und – oft genug – des selbstgerechten Schwadronierens
über die eigene Opferrolle hat in der Tschechischen Republik die Aufklärung von
Verbrechen an den Sudetendeutschen begonnen. Mutige Einzelne treiben die
Aufarbeitung voran, denn das Umdenken steht vielfach erst am Anfang.
Tschechische Arbeiter drücken sich mitunter
drastisch aus, vor allem wenn sie „eiserne Kommunisten“ wie der ehemalige
Traktorist Vaclav Slama sind: „Deutsche waren doch Scheißhäuser, sie hatten
ihren Tod verdient.“ Slama hatte um 1980 bei Drainagearbeiten im südmährischen
Dobrenz (Dobronin) bei Iglau menschliche Knochen freigelegt – stumme Zeugen
eines Massenmords, der am 19. Mai 1945 geschah, doch mit dem man sich in dem
Dorf bis vor kurzem nicht befassen wollte.
Im Dobrenzer Dorfgasthof „Bei Polzer“ gab es 1945
ein Tanzvergnügen, erstmals seit Kriegsende, exklusiv für Tschechen, während die
Deutschen der „Iglauer Sprachinsel“ in Sammellagern auf ihren Transport zur
Vertreibung warteten. Für ihre Bewachung waren die „Revolutionären Garden“
zuständig, Banden räuberischer Lumpenproleten, selbst von Tschechen verächtlich
„zlatokopove“ (Goldgräber) genannt. „Gardisten“ waren häufig jene, die durch
betonte Brutalität ihre vorherige Kollaboration mit dem NS-Regime kompensieren
wollten. Als oberster Gardist wirkte in Dobrenz der Österreicher Robert
Kautzinger (1901–1974), der mit seinen Söhnen Robert und Rudolf sowie neun
weiteren Kumpanen die Region terrorisierte. An jenem 19. Mai wählten sie 17
Deutsche aus, töteten zwei sofort, ließen 15 ihre eigenen Gräber ausheben und
brachten sie dann ebenfalls um. Danach feierten die Mörder bei „Polzer“ weiter
und brüsteten sich ihrer Tat, die dem Kautzinger-Trio später Anstellungen beim
tschechischen Staatssicherheitsdienst eintrug (respektive dieser zumindest nicht
entgegenstand). Sohn Robert lebt noch, kann sich aber „an nichts erinnern“. In
den USA oder Kanada soll mit Stefan Bobek ein weiterer Dobrenz-Mörder leben. Der
kommunistische Bürgermeister Jiri Vlach will „auf keinen Fall die Dinge wieder
ans Licht ziehen, wie es heute Mode ist, wo doch unter die Vergangenheit ein
dicker Strich gehört“.
Wohl selten ist ein Verbrechen so allgemein
verschwiegen worden, dabei so allgemein bekannt gewesen wie diese Morde. Bei den
Mördern war der Glasarbeiter Budin, der einem Opfer mit dem Spaten den Schädel
spaltete. Nach ihm wurde der Tatort, eine Wiesensenke zwischen Dobrenz und
Bergersdorf (Kamenna), im Volksmund „Budinka“ genannt. Zeugen konnten auf der 80
mal 800 Meter großen Budinka die Stelle bezeichnen, an welcher Knochen zu finden
waren. 1947 hatte es erfolglose Versuche gerichtlicher Aufklärung gegeben. Nach
1960 folgten Untersuchungen des Internationalen Roten Kreuzes, 1980 Slamas
Knochenfunde, ab 1989 erste Gedenkveranstaltungen Vertriebener vor Ort, wobei
Kränze und Kreuze stets von anonymen Tschechen, mutmaßlichen Tatbeteiligten,
über Nacht zerstört wurden. Erst in den frühen 1990er Jahren gelang es, in den
Klöstern Seelenz (Zdirec) und Schlappenz (Slapanov) zweisprachige Gedenktafeln
mit bewusst zurückhaltendem Text anzubringen.
Bis zum letzten Kriegstag lebten die rund 15.000
Deutschen der Iglauer Sprachinsel in Eintracht mit ihren tschechischen Nachbarn.
was aber 1945 Mord und Vertreibung nicht verhinderte. Vergessen machte sich
breit, zumal in heimischen Archiven kein Hinweis auf tschechische Untaten war.
Die fanden sich 2001 in einer Dokumentation des Deutschen Fritz Hawelka und 2003
in dem Roman „BergersDorf“ von Herma Kennel. Diese Hinweise griff der Journalist
Miroslav Mares vom „Iglauer Tageblatt“ auf, und 2009 erstatteten er und Herma
Kennel Anzeige gegen Unbekannt.
Anders als sonst in der Tschechischen Republik
begannen daraufhin kriminalistische Aktivitäten, die ab Januar 2010 die
regionale Polizei unter Michal Laska intensivierte. Das Verdienst daran schrieb
sich zu Recht das „Tageblatt“ zu, denn es habe mit seinen Berichten „Jahrzehnte
der Verdächtigungen und Zweifel beendet“. Am Morgen des 16. August begannen die
Arbeiten mit Baggern, Sonden und Geo-Radar, bereits zu Mittag fand man erste
Knochen- und Kleidungsreste von mindesten sechs Personen. Weitere sollen folgen
und DNA-Tests baldige Aufklärung bringen.
Seit dem 18. August steht auf der Budinka bei
Dobrenz ein drei Meter hohes Kreuz, von Einwohnern aufgestellt. Dobrenz ist kein
Einzelfall, vielmehr besteht, so Kriminalist Laska, ein starkes Interesse, „die
weißen Flecken in unserer Geschichte zu füllen“.
Dem Politologen Bohumil Dolezal erscheint seine
Heimat als Geisterort, in den allnächtlich mehr Tote zurückkehren, um zu warnen:
Morde können verjähren – Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht! Ludek Navara,
ein auf die Vertreibungen spezialisierter dokumentarischer Autor, meinte
lakonisch: Das ganze Ausmaß der damaligen Massentötungen kennen die heutigen
Tschechen nicht einmal annähernd. Dutzende Schreckensorte vermutet das
Tschechische Fernsehen neben den schon bekannten: Postelberg (Postoloprty) Juni
1945: mindestens 763 Deutsche erschossen, Aussig (Usti) 31. Juli 1945: Pogrom an
Deutschen mit mindestens 100 Opfern, Prag-Borislavka 10. Mai 1945: Erschießungen
und Niederrollen durch Lkw von zirka 40 Deutschen, Prerau 19. Juni: Erschießung
von 265 deutschen Zivilisten, ähnliche Massaker in Brünn, Olmütz, Pilsen,
Rakonitz, Mährisch Ostrau, Budweis, Nachod, Landskron usw. Eines der vielen
Massaker von Prag wurde von dem Regisseur David Vondracek in dem Film „Zabijeni
po cesku“ (Tötung auf Tschechisch) verarbeitet und eindeutig kommentiert: Solche
Taten „sind Teil des größten Massenmordens zwischen dem Ende des Zweiten
Weltkriegs und den Ereignissen im bosnischen Srebrenica 1995“.
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