|
|
»Dresden an der Ostsee« Nicht einmal einen Monat nach den verheerenden britischen und US-amerikanischen Luftangriffen auf Dresden warfen 661 viermotorige Langstreckenbomber der 8. US-Luftflotte Bombenteppiche, bestehend aus 1608 Tonnen Sprengbomben, über der Hafen- und Bäderstadt Swinemünde ab. Der Angriff dauerte nicht einmal eine Stunde, aber seine Folgen waren grauenhaft. Vor allem am Hafen und unter den Bäumen des Kurparkes hatten sich viele tausend Flüchtlinge aus den Ostgebieten versammelt, um auf die Verschiffung nach Schleswig-Holstein und Dänemark zu warten. Auch passierten viele Trecks auf dem Weg nach Westen Swinemünde; die Straßen der Umgebung waren von langen Flüchtlingsströmen bevölkert, die von sowjetischen Jagdbombern immer wieder im Tiefflug angegriffen wurden. Die Zahl der Toten konnte nie auch nur annähernd genau ermittelt werden, rückten doch schon am 4. Mai 1945 sowjetische Truppen in die unverteidigte Stadt ein, als noch nicht einmal alle Massengräber geschlossen waren. Nach dem Krieg war von 6.000, 8.000, ja sogar 20.000 und 22.000 Toten die Rede. Zeitzeugen sprachen vom „Dresden an der Ostsee“. Dieser Katastrophe thematisiert der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in einem voluminösen Sammelband über die Geschichte Swinemündes und seines Umlandes seit dem 19. Jahrhundert. Einen Schwerpunkt bildet dabei der Golm, ein Hügelgelände südwestlich des Ortes, auf dem die meisten Kriegstoten ihre letzte Ruhe gefunden haben. 25 Autoren behandeln die Entwicklung der Gegend unter verschiedenen Aspekten, wobei der Luftangriff und seine Folgen im Mittelpunkt stehen. Während Swinemünde in der Londoner Konferenz Polen zugeschlagen wurde, verblieb der Golm bei Deutschland, beziehungsweise in der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR, um seit der kleinen Wiedervereinigung zur Bundesrepublik Deutschland zu gehören. Der Angriff der amerikanischen Bomber am 12. März 1945 soll auf das sowjetische Ersuchen zurückgegangen sein, den wichtigen Marinestützpunkt Swinemünde, in dem Schiffe der Kriegsmarine Munition und Treibstoff aufnahmen und der auch für Truppentransporte verwendet wurde, anzugreifen. Die Tatsache, dass dort auch Zigtausende von Flüchtlingen versammelt waren, soll nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die Opfer mussten in aller Eile beerdigt werden, wobei es nur in seltenen Fällen möglich war, sie zu identifizieren. Unmöglich war die Identifizierung der vielen Toten auf den im Hafen versenkten Flüchtlingstransportern, von denen einige erst lange nach der Besetzung durch Sowjettruppen geborgen werden konnten. Mehrere Beiträge des Buches behandeln die Frage nach den Verlusten. Rolf Dieter Müller, Wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam, kommt zu dem Schluss, dass es „weniger als 10.000“ waren. In seiner Schilderung des gesamten Komplexes des Luftkrieges folgt er den Forschungsergebnissen seines früheren Kollegen, Horst Boog, nach denen es die Briten waren, die lange vor Beginn des Zweiten Weltkrieges beschlossen hatten, in kommenden Krieg die feindliche Zivilbevölkerung – Völkerrecht hin oder her – zum Ziel ihres Luftkrieges zu machen, da so am schnellsten die Kampfmoral des Gegners gebrochen werden könne. Aber es kann natürlich in seinem Beitrag (wie auch in manchem anderen) nicht fehlen, dass das Deutsche Reich 1939 „den Raub- und Eroberungskrieg“ begonnen habe, um damit zu suggerieren, dass es damit mittelbar auch am Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung schuld ist. Helmut Schnatz, der schon – wie Müller – bei der Schätzung der Dresdner Luftkriegstoten eine wichtige Rolle gespielt hat, kommt im Fall Swinemünde zu dem Schluss, dass auf den Friedhöfen auf dem Golm nicht mehr als 4.500 Tote liegen, konzediert aber, dass mindestens noch ein Massengrab unentdeckt auf jetzt polnischem Gebiet liegen könnte. Dieser Zahl widerspricht der jetzige Leiter der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Golm des Volksbundes, Niels Köhler: Er wirft Schnatz vor, nicht alle Kriegsgräber berücksichtigt zu haben, sind doch auch zahlreiche Luftkriegstote auf dem Neuen und Alten Friedhof in Swinemünde wie auf dem Friedhof in Osternothafen beigesetzt. Auch an anderen, östlich der Swine gelegenen, jetzt zu Polen gehörenden Plätzen seien damals Tote beerdigt worden. Man findet im Buch noch weitere aufschlussreiche Berichte über das Leben in den ersten Nachkriegsjahren unter sowjetischer, später polnischer Besatzung, so etwa den über den ersten von der Besatzungsmacht eingesetzten Landrat, einen vorbestraften Alt-Kommunisten, der sehr bald von den Sowjets vor Gericht gestellt werden musste, weil er nach gemeinsamen Saufgelagen mit russischen Offizieren anschließend mit seinen Gesinnungsgenossen loszog, um gefangene Deutsche nicht nur zu quälen, sondern auch zu ermorden. Er wurde des Plünderns angeklagt und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Auch sein Nachfolger, ebenfalls ein bewährter Antifaschist, erwies sich als kriminell und wurde abgesetzt. Ein polnischer Historiker hat die noch vorhandenen Akten eines polnischen Gerichts in Stettin über das Gerichtsverfahren gegen einige Angehörige der polnischen Miliz, die zahlreiche deutsche Gefangene, Männer und Frauen, ohne jeden Anlass zu Tode gequält haben, aufgearbeitet. Die Täter wurden zu bis zu vier Jahren Haft verurteilt, wovon ihnen jeweils zwei Jahre erlassen wurden. Ausführlich wird das Schicksal der Friedhöfe dargestellt, bis sie ihren jetzigen, würdigen Zustand erreichten. Nachdem sie in der DDR unbeachtet geblieben waren, bildete sofort nach der kleinen Wiedervereinigung eine wachsende Zahl von Bürgern die „Interessengemeinschaft Gedenkstätte Golm“. Sie bewahrte die Gräber vor dem Verfall, bis sie der Volksbund im Jahre 2000 in seine Trägerschaft übernahm.
Diskutieren Sie diese Meldung in unserem Forum |