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Der Schloßvogt von
Tilsit
Unweit
der Stadt Tilsit, dicht an das Ufer der Memel herantretend, erhebt sich ein Berg,
den man Schloßberg nennt. Auf diesem hat in altalter Zeit eine Burg gestanden, von
der jedoch keinerlei Kunde auf unsere Tage gekommen ist. Aber es muß eine große,
das Land und den Strom weithin beherrschende Burg gewesen sein, wie sich noch deutlich
an den Spuren des mächtigen Grabens und der doppelten Wälle ablesen läßt.
Ganz oben auf der Höhe des Berges klafft ein breites,
dunkles Loch von unergründlicher Tiefe, das man bislang nicht ausloten konnte, und
wirft man einen Stein hinein, so hört man keinen Aufschlag vom Grunde heraufklingen.
Wie die Sage zu berichten weiß, soll die mächtige Burg einmal vor vielen hundert
Jahren ganz plötzlich versunken sein, und sie soll noch heutigentags in der Tiefe
völlig unzerstört stehen, und das Loch sei der Schornstein der Burg, aus dem man
von Zeit zu Zeit noch feine Rauchschwaden aufsteigen sieht.
Und man erzählt sich auch, daß in den Räumen und
Gewölben der Burg unermäßliche Schätze liegen sollen, die von einem alten Kastellan,
einem Männchen mit schneeweißen Haaren, bewacht werden. Es hat aber noch niemand
herausfinden können, wie dieser Schatz gehoben werden kann, obwohl der Kastellan
schon verschiedentlich gesehen wurde. Sobald man ihn jedoch ansprach, war er urplötzlich
verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.
Einmal hüteten mehrere Hirtenknaben aus dem Tilsiter
Kämmereidorf Preußen das Vieh auf dem Schloßberg, und wie schon oft davor, hielten
sie an dem dunklen Abgrund Rast, warfen Steine in die Tiefe und erzählten sich mit
glänzenden Augen die Geschichte, die sie von den Schätzen dort unten gehört hatten.
Da überkam sie die Lust, in die Burg hinabzusteigen, um zu entdecken, was an Wahrem
an den alten Geschichten sei, und vielleicht gelänge es ihnen gar, einiges von dem
großen Reichtum für sich zu gewinnen. Und da sie ein langes Seil mitgebracht hatten
- es mochte wohl länger sein als der Turm der Deutschen Kirche zu Tilsit -,
beschlossen sie, den Jüngsten aus ihrem Kreis daranzubinden und hinabzulassen.
Der kleine Junge aber bekam es mit der Angst und
wollte davonlaufen. Sie fingen ihn aber ein, überwältigten ihn und banden ihn an
das Seil, dann ließen sie ihn in den finsteren Spalt hinunter. Soweit sie aber auch
das Seil ablaufen ließen, es blieb straff und gespannt, und sie spürten daran das
Gewicht des Jungen - ein Zeichen also, daß er noch immer nicht den Grund erreicht
hatte, obwohl sie schon lange nicht mehr sein Schreien und Wehklagen hören konnten.
Auf einmal aber, nachdem das Seil schon fast ganz abgerollt war, spürten sie die
Last nicht mehr, und sie vermuteten, daß ihr Gespiele nun den Boden der alten Burg
erreicht haben mußte. Sie schrien in den dunklen Schlund hinein, er möge ihnen ein
Zeichen geben, aber sie bekamen keine Antowrt, sosehr sie auch lauschten und soweit
sie sich auch über den Abgrund beugen mochten. Sie hörten keinen Laut aus der Tiefe
heraufdringen.
Als sie nun lange genug gewartet, zogen sie das Seil
wieder in die Höhe, aber es war nicht schwerer geworden, und als sie das Ende aus
der Schlucht herauszogen, war es leer. Da bemächtigte sich ihrer großen Furcht,
und sie liefen wie gehetzt davon.
Am anderen Morgen, da sie das Vieh wieder austrieben,
mieden sie es ängstlich, in die Nähe des Schloßberges zu kommen. Doch als sie noch
überlegten, wohin sie sich wenden sollten, kam ihnen, lachend und mit raschen Sprüngen,
der Knabe entgegen, den sie zerschmettert in der Tiefe des Berges liegen glaubten.
Und sie erstaunten noch mehr, als sie sahen, daß er seine Mütze und alle seine Taschen
prall gefüllt mit funkelnden Goldstücken hatte.
Atemlos erzählte er den Gefährten, was ihm im Innern
des Berges widerfahren:
Der dunkle Abgrund, in den sie ihn hinabgelassen,
führte ihn direkt in die große Burgküche, in der war es ganz hell von all dem vielen
goldenen und silbernen Geschirr an den Wänden, auf Tischen und Kästen. Er war aber
noch immer voller Furcht und hatte sich weinend und schluchzend auf den Boden gesetzt.
Da öffnete sich plötzlich eine Tür, und es trat ein altes, weißhaariges Männchen
herein, das habe ihm gar freundlich zugeredet, es sei ja alles gut, und er brauche
keine Angst zu haben. Darauf band er ihn von dem Seil los, nahm ihn an die Hand
und führte ihn durch viele, viele Gemächer, deren eines herrlicher und prunkvoller
als das andere gewesen, und überall standen mächtige Truhen herum, die waren bis
obenhin angefüllt mit Goldstücken und anderen kostbaren Schätzen. Da er sich müde
gelaufen, habe das Männlein ihn in ein Schlafgemach geführt und zu Ruhe gebettet.
Wie er nun heute morgen aufwachte, meinte er zunächst
nichts anderes, er habe das alles nur geträumt. Doch da er die Augen aufschlug,
sah er das Männlein wieder und ringsum all die funkelnde Pracht und die Truhen mit
den Goldstücken. Es war also doch kein Traum. Und der Weißhaarige sprach zu ihm,
er möge sich von den Dukaten so viel in die Taschen stecken, als er darin fortragen
könne, und dann füllte er ihm auch noch die Mütze bis obenhin voll. "Das verehrt
dir der Schloßvogt, es wird dir Glück bringen", sagte das Männlein und führte ihn
dann zu einer engen Pforte. Durch diese gelangte er am Fuße des Berges ins Freie.
Als er sich aber umwandte, um sich bei dem Alten zu bedanken, war dieser verschwunden,
und es war auch nirgends eine Öffnung zu entdecken. Nur Geröll und Strauchwerk,
Gras und Kraut bedeckten an dieser Stelle die Erde.
Die anderen Jungen lauschten gespannt diesem Bericht,
und der Reichtum in den Händen ihres Gefährten ließ keinen Zweifel an der Richtigkeit,
und es lockte sie, gleichfalls in den Berg einzudringen. Sie eilten, ohne sich weiter
um ihre Herde zu kümmern, zur Höhe hinan, wo sie das Seil noch vorfanden, wie sie
es gestern in ihrer Hast liegengelassen hatten. Und da ein jeder zuerst hinunter
gelassen werden wollte und sie sich nicht einig werden konnten, warfen sie das Los.
Es fiel auf ihren Anführer, der sie gestern dazu überredet hatte, den Jüngsten mit
Gewalt in die Tiefe zu lassen. Er band sich selbst das Seil um, und die Kameraden
ließen ihn in den gähnenden Spalt hinab. Da es schlaff in ihren Händen wurde, warteten
die Jungen oben noch eine Weile und zogen es wieder empor. Und richtig: wie
am Vortage war es auch diesmal leer. Da gingen sie vergnügt nach Hause und erwarteten
getrost den neuen Morgen, meinend, der Hinabgelassene werde dann reich beschenkt
wieder durch die geheime Pforte ans Tageslicht treten, und es könne dann der nächste
von ihnen an die Reihe kommen und sein Glück machen.
Allein der Junge blieb verschollen, und es sah und
hörte nie wieder jemand etwas von ihm. Von den anderen Hirtenknaben hatte keiner
mehr den Mut gehabt, sich in die Tiefe hinabzulassen. Sie beschieden sich in ihrem
Beruf, ertrugen geduldig ihre Armut und strebten ferner nicht nach fremdem Hab und
Gut.
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Einsenderin: Sabine Nienhüser
Literatur: Klinger, Ludwig: Die schönsten Sagen aus West- und Ostpreußen,
München 1979, S.109-114
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