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Hermann Sudermann


Gedenkschrift - 70 Jahre LO-NRW

70 Jahre LO Landesgr. NRW
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Als Deutscher unter dem „Schwents Jurgis“

von (Jonny) Wilhelm Köhler

Im Sommer 1937 wurde ich dann im Schützenhaus in Memel gemustert –an der gleichen Stelle wie ehedem unsere Väter für Wilhelm II. Genau wie damals fiel auch der Befund aus: „Tinkamas! Pesteninkai!“ (Tauglich! Infanterie!).

Der Gestellungsbefehl lautete auf den 3. November 1937 in die Kaserne in der Herkus-Montés Klaipédoje“, also in die Kaserne in der Memeler Moltkestraße, in die schon unsere Väter eingerückt waren. Im Kasernenhof traten wir mit unseren Holzkoffern (sandukas) an, seltsam entstellt durch den Kahlschlag, sprich: Glatzkopp. Mit Marschmusik wurden wir zum Bahnhof geführt, wohl um uns den Weg zum Ehrendienst für „musu tévyne“ (unser Vaterland) zu erleichtern.

Wir waren etwa sechzig Rekruten aus Memel und Umgebung, also fast ausschließlich Deutsche. Auf dem Bahnsteig teilte uns der Leutnant in Gruppen auf.

Er hielt eine markante Ansprache, die wir natürlich nicht verstanden, da unser Schullitauisch dafür nicht reichte. Ich bekam nur zwischendurch einige Wörter mit: Tévyne – drausmingas – uschdraustas – ne galima. Daraus konnte ich mir zusammenreimen, dass wir ein fremdes Vaterland mannhaft verteidigen sollten. Na schön, was blieb uns anderes übrig! Also hinein in den Waggon und ins Ungewisse, das für mich das König-Mindaugas-Regiment in Panewitsch werden sollte!

Im Abteil waren wir fünfzehn Mann, und unser Galgenhumor schlug hohe Wogen, als wir feststellten, dass wir uns schon von irgendwoher kannten. Da standen Klassenkameraden und Sportler, Berufskollegen und sonstige Stempel- und Konfirmandenbrüder um mich herum. Lachen, Johlen und Feixen: „Ei kick -, dich haben se auch bei de Bixen jekricht...“

Der Zug dampfte los, kaum dass wir uns von unseren Verwandten, Vätern, Müttern, Bräuten verabschieden konnten. Die Abteilfenster waren belagert. Winken und Singen: „In der Heimat, in der Heimat da gibt´s ein Wiedersehn!“

Der Begleitposten wurde unruhig, weil wir Deutsch sangen. Er wollte gegen unseren Protest die Fenster schließen. Wir meuterten fast. Da fuhr er uns auf bestem Memelländisch an: „Jungs, macht keinen Mist! Was glaubt ihr, was ich für einen Dunst krieg, wenn der Leutnant euren Krawall hört!“

Wir waren platt. Uns verschlug es den Atem. „Mensch, Mann´che, du bist auch einer der Unsrigen?“ Ja -, er war es. Er war ein Grandis (Gefreiter) aus Wischwill. Unsere Verklemmung gegen den Uniformierten mit der Knarre löste sich. Wir bedauerten sein und unser Schicksal nicht lange, sondern zogen tüchtig an der Dektinnisbuddel. Die rechte Stimmung aber wollte nicht aufkommen. In uns wehrte sich alles, der gelb-grün-roten Fahne dienen zu müssen. Verschüchtert saßen in den Abteilen auch ein paar Kahlköppe, die verzückt von unserem Schnaps tranken, aber nicht Prost, sondern „Sweiks“ sagten und kaum ein Wort Deutsch konnten, Nationallitauer, die man mit uns gezogen hatte.

Ein unbeteiligter Beobachter hätte wohl erkannt, dass es sich bei uns um einen Rekrutentransport handelte, er hätte aber kaum ergründen können, ob diese jungen Kerle nach Tilsit oder Königsberg einrückten. Tatsächlich fuhren wir nach Großlitauen, um bei einem fremden Volk Militärdienst zu leisten. In unseren Gestellungsbefehlen stand unter der Rubrik „Tautybé“ (Volkszugehörigkeit) ganz deutlich: Deutscher. Das hieß, dass wir Memeldeutschen, deren Väter noch das Land vom russischen Joch freigekämpft hatten, für Litauen kämpfen sollten -, im Falle eines Falles auch gegen Deutschland. Daran hatten die Versailler Friedensmacher wohl nicht oder nur in zynischer Weise gedacht.

Wir wurden nach Pajoste gebracht, an der windungsreichen Joste gelegen, zu einem ehemaligen deutschen Gutshof, den der Staat aufgekauft und mit einer Kaserne neuester englischer Bauart versehen hatte, Hier war der 4. Pulk zu Hause.

Nachdem wir uns gegenseitig beschnuppert hatte und die gut gemeinten Ratschläge für Dienst, vorgesetzte und Muschicks zu verkraften versucht hatten, schrillte eine Trillerpfeife im Revier. Jemand brüllte auf Litauisch: „Rekruten, fertigmachen zum Einkleiden!“ Also wanderten wir zur Kleiderkammer, wo man uns in Uniformen steckte, die für Kasernenhof und Felddienst recht brauchbar waren. Die Einkleidung ging flott vonstatten, und wer wunderte sich schon, wenn der Rock zu kurz, die Hose zu lang, die Mütze zu klein und der Helm zu groß war.

„Ne swarbu“, greinte der Kammerbulle. Nicht wichtig also. Und der Feldwebel schnauzte uns an bei Reklamationen oder lachte sich eins ins Fäustchen.

Dann standen wir etwas deppert im Rock der „tévyne“ im Korridor zur ersten Musterung. Ich hatte einen zu großen und einen kneifenden Knobelbecher erwischt. Die Ärmel waren mir zu lang, und das Zündhütchen mit dem Schwents Jurgis war entschieden zu klein.

Nun folgte die Betten- und Strohsackzuteilung. Alle Achtung! Saubere Laken, makellose Unterwäsche! Aber ein furchtbarer Kasernenmief aus Leder, Tabak, Schweiß, Öl und Chlor.

Ich saß neben meinem Kameraden Lankut und Simat auf dem Bett. Hermann Bischof, wie ich Kanusportler und schon alter Kareivis (Soldat), lehrte uns Soldatenphilosophie. Wir packten Mutters Futterpakete aus und wollten uns einen Imbiss gönnen.

Da schrillte es schon wieder im Korridor: „Fertigmachen zum Essen!“ Hermann meinte, es sei kein Zwang, zum Essen zu gehen – wir sollten uns nicht stören lassen. Aber da war schon der Wachhabende im Raum, scheuchte uns von den Betten und erklärte, es sei verboten, selbige zum sitzen zu missbrauchen und, zu Hermann gewandt, in der Unterkunft zu rauchen.

Hermann war hier zwar schon länger, konnte aber immer noch kaum radebrechen, und so gab es einen komischen Dialog, halb Deutsch, halb Litauisch, mit steigender Lautstärke. Als der Wachhabende schließlich was von „praneschti“ (Meldung machen) brummte, verkrümelten wir uns in die Kantine, wo wir in einer Ecke zwischen Flaschenkisten in guter Deckung eine ganze Meute Memelländer antrafen, alte und junge Soldaten, es wurde eine feuchtfröhliche Runde.

Die Kantine wurde hinfort nach Dienstschluss zum Treffpunkt für die Plauderstunde der Memelländer. Es wurde in diesem Kreis nur Deutsch gesprochen. An sich war das verboten und wurde in anderen Einheiten mit Strafe belegt. Im 4. Pulk aber war man nicht kleinlich. Selbst die Offiziere, sofern sie der deutschen Sprache einigermaßen mächtig waren, duldeten es, dass wir uns ihnen gegenüber in unserer Sprache verständlich machten. Unangenehm wurden sie nur, wenn sich die Polen in ihrer Muttersprache unterhielten. Der Grund: „Mes be Wilnaus nenurimsim!“ (Ohne Wilna geben wir keine Ruhe). Die Polen zischelten dazu zwischen den Zähnen ihre Antwort: „Schurek, kad Kaunas neatimsim!“ (Schaut, dass wir euch nicht auch noch Kowno wegnehmen).

Das litauische Heer bestand selbstverständlich zu etwa zwei Dritteln aus Litauern. ein Drittel setzte sich aber aus Polen, Russen, Juden, Letten und Deutschen zusammen. Das Offiziers- und Unteroffizierskorps bestand, mit wenigen Ausnahmen, aus Berufssoldaten.

Mit den Litauern konnte man für unsere Begriffe recht gut auskommen. Sie waren bestrebt, uns für sich zu gewinnen, wenngleich sie wussten, dass wir uns als Deutsche fühlten.

Allgemein verschonte man uns damit, Waffenteile auf Litauisch zu bezeichnen. Hauptsache war, wir konnten das Gewehr und sonstige Waffen zerlegen, damit umgehen.

Der Gefechtsdienst im Gelände wurde mit besonderer Härte durchgeführt.

Gegen ein Uhr gab es Mittagessen. Die Verpflegung war, wenn auch nicht abwechslungsreich, so doch in der Zusammenstellung der Kalorien und Nährwerte durchaus zufriedenstellend. Es gab viel kohl, Erbsen, Kartoffeln und Grützsuppen oder Breigerichte, sowie Fisch und Fleisch dazu. Trotzdem wollten wir lieber heut´ als morgen nach Hause und zählten die Portionen, die wir hier noch einzunehmen hätten.

Beim Abmarsch zur Gefechtsübung wurde gesungen. Ich erinnere mich des Textes eines jener Lieder, in dem es hieß: „Männer, Soldaten des Königs Mindaugas, wir fürchten nicht die Feindeskugel und marschieren tapfer in den Kampf!“. Uns stellte sich natürlich die Frage, was geschehen würde, wenn sich die Waffen gegen Polen oder gar gegen Deutschland selbst richten würden. Insgeheim wurde dieses Thema viel diskutiert, und unsere Auffassung war: Es ist gleichgültig, wir den Drill erhalten, doch im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung müssten wir eine Möglichkeit finden, wegzukommen!

Was verlangte da ein Staat von uns, der uns fremd gegenüberstand? Man zwang uns sogar dazu, gegen unseren Willen und unsere Überzeugung den Fahneneid auf Staat und Staatsoberhaupt und Regiment zu leisten, indem wir vor der litauischen Fahne niederknien mussten, um sie zu küssen und damit unsere ergebene Treue für das uns fremde Vaterland zu bekunden“! Also sangen wir die litauische Nationalhymne und dachten an Deutschland.

Zwölf Monate schlichen in abstumpfender Monotonie dahin. Ein Winter mit der formalen Ausbildung und Feldübungen, ein Sommer mit dem üblichen großen Manöver in Paligone hatten uns abgehärtet, aber unseren inneren Widerstand nicht brechen können. Alles war zur Gewohnheit geworden, auch die kleinen und großen schikanösen Missverständnisse wurden von uns kaltschnäuzig durchgestanden. Urlaub gab es kaum und wenn, dann bestenfalls drei Tage.

Schöne Stunden aber wussten wir in unserer Freizeit im Kameradenkreis zu machen, indem wir uns in kleineren Gruppen an der Joste oder im Park zusammenfanden. Gelegentlich unternahmen wir auch mal einen Stadtbummel nach Panewitsch, um dort in irgendeiner Speisewirtschaft saftige Gänsekeulen zu verzehren.

Ein großer Teil unserer Jungs hatte sich dem Sport zugewendet, einige waren sogar groß herausgekommen, man beteiligte sich an Korbball, Turnen, Leichtathletik, Boxen und Fußball. Die Fußballer waren fast nur Memelländer – mit Ausnahme eines Leutnants und eines jüdischen Kameraden, der ein prächtiger Kumpel war.

Viele von uns waren inzwischen auf Druckposten abgestellt worden. Die Vorgesetzten wussten mit unserem schwierigen Haufen offenbar nichts Besseres zu machen, als uns – auf Grund unserer deutschen Genauigkeit wahrscheinlich – irgendwo im verantwortlichen Dienst in Schreibstuben, Buchbinderei, Tischlerei, Waffenmeisterei oder einfach in der Sauna für den Rest der Militärzeit, also die letzten drei Monate, unterzubringen.

Im Herbst 1938 war nochmals ein Schub Memelländer zu uns gekommen. Das waren junge Leute, die den Drang nach der Freiheit des Memellandes noch stärker in sich trugen. Sie waren überzeugt, dass sie nicht, wie wir, volle achtzehn Monate würden dienen müssen.

Zu dieser Zeit sorgte sich Litauen um die Erhaltung des Memelgebietes für seinen Staat. Inzwischen wusste man, dass die Bevölkerung wohl zu neunzig Prozent für die Rückgliederung an Deutschland stimmen würde -, und das nicht erst seit Hitler auf den Plan getreten war, sondern bereits zu Hindenburgs Zeiten.

Oberleutnant Josewitschus akzeptierte diese unsere Haltung zum Deutschtum und verabschiedete sich mit Händedruck von uns. „Wir wollen dennoch bleiben Freunde und Kameraden“, murmelte er und schritt nachdenklich über den Kasernenhof.

Am 22. März 1939 wurden die Deutschen zur Entlassung im Unteroffizierskasino zusammengerufen. Der Kommandeur, Pulkeninkas Zadeika, hielt eine Ansprache, aus der zu entnehmen war, dass man sich Deutschland nicht entgegenstellen könne; Litauen müsse den Entschluss der memelländischen Bevölkerung, sich von Litauen zu trennen, gerechterweise anerkennen. Mit einem „Gott mit euch, Mannen“! („Su devu, Vierei!“) verabschiedete sich er und das Offizierskorps von uns.

Abmarsch zum Bahnhof. Wiedersehen mit anderen Gruppen in Radwilischki, wo sich die Rücktransporte sammelten. Hochstimmung, wir fuhren der freien Heimat entgegen. In Bajohren, Memel, Prökuls und Pogegen stiegen die Kahlköppe aus. Unsere Angehörigen trieben sich auf den Straßen der Städte herum, feierten die Rückkehr zum Mutterland.

Etwas fassungslos, dass der Spuk tatsächlich ein Ende haben sollte, stellte ich meinen Holzkoffer in die Zimmerecke, zwängte mich in meinen viel zu eng gewordenen Anzug und landete in Brauers Keller in der Marktstraße, wo Schnaps und Bier ausgeschenkt wurden.

Doch schon im September 1939 wurden die ehemaligen Kareivis zwecks „Umschulung“ auf MG 34 und Preußentum zu den Fahnen gerufen. Irgendwo in den ostpreußischen Regimentern trafen sich manche der einstmaligen Leidensgenossen wieder und wurden schnell frontreif gemacht. Nur gut, dass sie überhaupt eine kurze militärische Ausbildung erhalten hatten. Sie kämpften auf allen Schlachtfeldern des zweiten Weltkrieges, starben oder überlebten diesen grausamen Krieg und wurden Heimatlose.

1940 annektierte Russland Litauen. Das litauische Herr blieb bestehen, musste sich jedoch russischen Verbindungsoffizieren unterwerfen.
 

Quelle:
Verlorene Heimat! Wiedergefunden -!-,
Erinnerungen eines Memeler Bowke und Heydekrüger Lausbub von 1920 bis 1939, Lübeck 1999


Memellandgeschichte Der Ordensstaat Preußische Litauer Klaipeda ist Memel Als Deutscher ... 80. Jahrestag


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