Als Deutscher unter dem „Schwents Jurgis“
von
(Jonny) Wilhelm Köhler
Im Sommer 1937 wurde ich dann im Schützenhaus in
Memel gemustert –an der gleichen Stelle wie ehedem unsere Väter für Wilhelm II.
Genau wie damals fiel auch der Befund aus: „Tinkamas! Pesteninkai!“ (Tauglich!
Infanterie!).
Der Gestellungsbefehl lautete auf den 3. November
1937 in die Kaserne in der Herkus-Montés Klaipédoje“, also in die Kaserne in der
Memeler Moltkestraße, in die schon unsere Väter eingerückt waren. Im Kasernenhof
traten wir mit unseren Holzkoffern (sandukas) an, seltsam entstellt durch den
Kahlschlag, sprich: Glatzkopp. Mit Marschmusik wurden wir zum Bahnhof geführt,
wohl um uns den Weg zum Ehrendienst für „musu tévyne“ (unser Vaterland) zu
erleichtern.
Wir waren etwa sechzig Rekruten aus Memel und
Umgebung, also fast ausschließlich Deutsche. Auf dem Bahnsteig teilte uns der
Leutnant in Gruppen auf.
Er hielt eine markante Ansprache, die wir
natürlich nicht verstanden, da unser Schullitauisch dafür nicht reichte. Ich
bekam nur zwischendurch einige Wörter mit: Tévyne – drausmingas – uschdraustas –
ne galima. Daraus konnte ich mir zusammenreimen, dass wir ein fremdes Vaterland
mannhaft verteidigen sollten. Na schön, was blieb uns anderes übrig! Also hinein
in den Waggon und ins Ungewisse, das für mich das König-Mindaugas-Regiment in
Panewitsch werden sollte!
Im Abteil waren wir fünfzehn Mann, und unser
Galgenhumor schlug hohe Wogen, als wir feststellten, dass wir uns schon von
irgendwoher kannten. Da standen Klassenkameraden und Sportler, Berufskollegen
und sonstige Stempel- und Konfirmandenbrüder um mich herum. Lachen, Johlen und
Feixen: „Ei kick -, dich haben se auch bei de Bixen jekricht...“
Der Zug dampfte los, kaum dass wir uns von
unseren Verwandten, Vätern, Müttern, Bräuten verabschieden konnten. Die
Abteilfenster waren belagert. Winken und Singen: „In der Heimat, in der Heimat
da gibt´s ein Wiedersehn!“
Der Begleitposten wurde unruhig, weil wir Deutsch
sangen. Er wollte gegen unseren Protest die Fenster schließen. Wir meuterten
fast. Da fuhr er uns auf bestem Memelländisch an: „Jungs, macht keinen Mist! Was
glaubt ihr, was ich für einen Dunst krieg, wenn der Leutnant euren Krawall
hört!“
Wir waren platt. Uns verschlug es den Atem.
„Mensch, Mann´che, du bist auch einer der Unsrigen?“ Ja -, er war es. Er war ein
Grandis (Gefreiter) aus Wischwill. Unsere Verklemmung gegen den Uniformierten
mit der Knarre löste sich. Wir bedauerten sein und unser Schicksal nicht lange,
sondern zogen tüchtig an der Dektinnisbuddel. Die rechte Stimmung aber wollte
nicht aufkommen. In uns wehrte sich alles, der gelb-grün-roten Fahne dienen zu
müssen. Verschüchtert saßen in den Abteilen auch ein paar Kahlköppe, die
verzückt von unserem Schnaps tranken, aber nicht Prost, sondern „Sweiks“ sagten
und kaum ein Wort Deutsch konnten, Nationallitauer, die man mit uns gezogen
hatte.
Ein unbeteiligter Beobachter hätte wohl erkannt,
dass es sich bei uns um einen Rekrutentransport handelte, er hätte aber kaum
ergründen können, ob diese jungen Kerle nach Tilsit oder Königsberg einrückten.
Tatsächlich fuhren wir nach Großlitauen, um bei einem fremden Volk Militärdienst
zu leisten. In unseren Gestellungsbefehlen stand unter der Rubrik „Tautybé“
(Volkszugehörigkeit) ganz deutlich: Deutscher. Das hieß, dass wir
Memeldeutschen, deren Väter noch das Land vom russischen Joch freigekämpft
hatten, für Litauen kämpfen sollten -, im Falle eines Falles auch gegen
Deutschland. Daran hatten die Versailler Friedensmacher wohl nicht oder nur in
zynischer Weise gedacht.
Wir wurden nach Pajoste gebracht, an der
windungsreichen Joste gelegen, zu einem ehemaligen deutschen Gutshof, den der
Staat aufgekauft und mit einer Kaserne neuester englischer Bauart versehen
hatte, Hier war der 4. Pulk zu Hause.
Nachdem wir uns gegenseitig beschnuppert hatte
und die gut gemeinten Ratschläge für Dienst, vorgesetzte und Muschicks zu
verkraften versucht hatten, schrillte eine Trillerpfeife im Revier. Jemand
brüllte auf Litauisch: „Rekruten, fertigmachen zum Einkleiden!“ Also wanderten
wir zur Kleiderkammer, wo man uns in Uniformen steckte, die für Kasernenhof und
Felddienst recht brauchbar waren. Die Einkleidung ging flott vonstatten, und wer
wunderte sich schon, wenn der Rock zu kurz, die Hose zu lang, die Mütze zu klein
und der Helm zu groß war.
„Ne swarbu“, greinte der Kammerbulle. Nicht
wichtig also. Und der Feldwebel schnauzte uns an bei Reklamationen oder lachte
sich eins ins Fäustchen.
Dann standen wir etwas deppert im Rock der „tévyne“
im Korridor zur ersten Musterung. Ich hatte einen zu großen und einen kneifenden
Knobelbecher erwischt. Die Ärmel waren mir zu lang, und das Zündhütchen mit dem
Schwents Jurgis war entschieden zu klein.
Nun folgte die Betten- und Strohsackzuteilung.
Alle Achtung! Saubere Laken, makellose Unterwäsche! Aber ein furchtbarer
Kasernenmief aus Leder, Tabak, Schweiß, Öl und Chlor.
Ich saß neben meinem Kameraden Lankut und Simat
auf dem Bett. Hermann Bischof, wie ich Kanusportler und schon alter Kareivis
(Soldat), lehrte uns Soldatenphilosophie. Wir packten Mutters Futterpakete aus
und wollten uns einen Imbiss gönnen.
Da schrillte es schon wieder im Korridor:
„Fertigmachen zum Essen!“ Hermann meinte, es sei kein Zwang, zum Essen zu gehen
– wir sollten uns nicht stören lassen. Aber da war schon der Wachhabende im
Raum, scheuchte uns von den Betten und erklärte, es sei verboten, selbige zum
sitzen zu missbrauchen und, zu Hermann gewandt, in der Unterkunft zu rauchen.
Hermann war hier zwar schon länger, konnte aber
immer noch kaum radebrechen, und so gab es einen komischen Dialog, halb Deutsch,
halb Litauisch, mit steigender Lautstärke. Als der Wachhabende schließlich was
von „praneschti“ (Meldung machen) brummte, verkrümelten wir uns in die Kantine,
wo wir in einer Ecke zwischen Flaschenkisten in guter Deckung eine ganze Meute
Memelländer antrafen, alte und junge Soldaten, es wurde eine feuchtfröhliche
Runde.
Die Kantine wurde hinfort nach Dienstschluss zum
Treffpunkt für die Plauderstunde der Memelländer. Es wurde in diesem Kreis nur
Deutsch gesprochen. An sich war das verboten und wurde in anderen Einheiten mit
Strafe belegt. Im 4. Pulk aber war man nicht kleinlich. Selbst die Offiziere,
sofern sie der deutschen Sprache einigermaßen mächtig waren, duldeten es, dass
wir uns ihnen gegenüber in unserer Sprache verständlich machten. Unangenehm
wurden sie nur, wenn sich die Polen in ihrer Muttersprache unterhielten. Der
Grund: „Mes be Wilnaus nenurimsim!“ (Ohne Wilna geben wir keine Ruhe). Die Polen
zischelten dazu zwischen den Zähnen ihre Antwort: „Schurek, kad Kaunas neatimsim!“
(Schaut, dass wir euch nicht auch noch Kowno wegnehmen).
Das litauische Heer bestand selbstverständlich zu
etwa zwei Dritteln aus Litauern. ein Drittel setzte sich aber aus Polen, Russen,
Juden, Letten und Deutschen zusammen. Das Offiziers- und Unteroffizierskorps
bestand, mit wenigen Ausnahmen, aus Berufssoldaten.
Mit den Litauern konnte man für unsere Begriffe
recht gut auskommen. Sie waren bestrebt, uns für sich zu gewinnen, wenngleich
sie wussten, dass wir uns als Deutsche fühlten.
Allgemein verschonte man uns damit, Waffenteile
auf Litauisch zu bezeichnen. Hauptsache war, wir konnten das Gewehr und sonstige
Waffen zerlegen, damit umgehen.
Der Gefechtsdienst im Gelände wurde mit
besonderer Härte durchgeführt.
Gegen ein Uhr gab es Mittagessen. Die Verpflegung
war, wenn auch nicht abwechslungsreich, so doch in der Zusammenstellung der
Kalorien und Nährwerte durchaus zufriedenstellend. Es gab viel kohl, Erbsen,
Kartoffeln und Grützsuppen oder Breigerichte, sowie Fisch und Fleisch dazu.
Trotzdem wollten wir lieber heut´ als morgen nach Hause und zählten die
Portionen, die wir hier noch einzunehmen hätten.
Beim Abmarsch zur Gefechtsübung wurde gesungen.
Ich erinnere mich des Textes eines jener Lieder, in dem es hieß: „Männer,
Soldaten des Königs Mindaugas, wir fürchten nicht die Feindeskugel und
marschieren tapfer in den Kampf!“. Uns stellte sich natürlich die Frage, was
geschehen würde, wenn sich die Waffen gegen Polen oder gar gegen Deutschland
selbst richten würden. Insgeheim wurde dieses Thema viel diskutiert, und unsere
Auffassung war: Es ist gleichgültig, wir den Drill erhalten, doch im Falle einer
kriegerischen Auseinandersetzung müssten wir eine Möglichkeit finden,
wegzukommen!
Was verlangte da ein Staat von uns, der uns fremd
gegenüberstand? Man zwang uns sogar dazu, gegen unseren Willen und unsere
Überzeugung den Fahneneid auf Staat und Staatsoberhaupt und Regiment zu leisten,
indem wir vor der litauischen Fahne niederknien mussten, um sie zu küssen und
damit unsere ergebene Treue für das uns fremde Vaterland zu bekunden“! Also
sangen wir die litauische Nationalhymne und dachten an Deutschland.
Zwölf Monate schlichen in abstumpfender Monotonie
dahin. Ein Winter mit der formalen Ausbildung und Feldübungen, ein Sommer mit
dem üblichen großen Manöver in Paligone hatten uns abgehärtet, aber unseren
inneren Widerstand nicht brechen können. Alles war zur Gewohnheit geworden, auch
die kleinen und großen schikanösen Missverständnisse wurden von uns
kaltschnäuzig durchgestanden. Urlaub gab es kaum und wenn, dann bestenfalls drei
Tage.
Schöne Stunden aber wussten wir in unserer
Freizeit im Kameradenkreis zu machen, indem wir uns in kleineren Gruppen an der
Joste oder im Park zusammenfanden. Gelegentlich unternahmen wir auch mal einen
Stadtbummel nach Panewitsch, um dort in irgendeiner Speisewirtschaft saftige
Gänsekeulen zu verzehren.
Ein großer Teil unserer Jungs hatte sich dem
Sport zugewendet, einige waren sogar groß herausgekommen, man beteiligte sich an
Korbball, Turnen, Leichtathletik, Boxen und Fußball. Die Fußballer waren fast
nur Memelländer – mit Ausnahme eines Leutnants und eines jüdischen Kameraden,
der ein prächtiger Kumpel war.
Viele von uns waren inzwischen auf Druckposten
abgestellt worden. Die Vorgesetzten wussten mit unserem schwierigen Haufen
offenbar nichts Besseres zu machen, als uns – auf Grund unserer deutschen
Genauigkeit wahrscheinlich – irgendwo im verantwortlichen Dienst in
Schreibstuben, Buchbinderei, Tischlerei, Waffenmeisterei oder einfach in der
Sauna für den Rest der Militärzeit, also die letzten drei Monate,
unterzubringen.
Im Herbst 1938 war nochmals ein Schub Memelländer
zu uns gekommen. Das waren junge Leute, die den Drang nach der Freiheit des
Memellandes noch stärker in sich trugen. Sie waren überzeugt, dass sie nicht,
wie wir, volle achtzehn Monate würden dienen müssen.
Zu dieser Zeit sorgte sich Litauen um die
Erhaltung des Memelgebietes für seinen Staat. Inzwischen wusste man, dass die
Bevölkerung wohl zu neunzig Prozent für die Rückgliederung an Deutschland
stimmen würde -, und das nicht erst seit Hitler auf den Plan getreten war,
sondern bereits zu Hindenburgs Zeiten.
Oberleutnant Josewitschus akzeptierte diese
unsere Haltung zum Deutschtum und verabschiedete sich mit Händedruck von uns.
„Wir wollen dennoch bleiben Freunde und Kameraden“, murmelte er und schritt
nachdenklich über den Kasernenhof.
Am 22. März 1939 wurden die Deutschen zur
Entlassung im Unteroffizierskasino zusammengerufen. Der Kommandeur, Pulkeninkas
Zadeika, hielt eine Ansprache, aus der zu entnehmen war, dass man sich
Deutschland nicht entgegenstellen könne; Litauen müsse den Entschluss der
memelländischen Bevölkerung, sich von Litauen zu trennen, gerechterweise
anerkennen. Mit einem „Gott mit euch, Mannen“! („Su devu, Vierei!“)
verabschiedete sich er und das Offizierskorps von uns.
Abmarsch zum Bahnhof. Wiedersehen mit anderen
Gruppen in Radwilischki, wo sich die Rücktransporte sammelten. Hochstimmung, wir
fuhren der freien Heimat entgegen. In Bajohren, Memel, Prökuls und Pogegen
stiegen die Kahlköppe aus. Unsere Angehörigen trieben sich auf den Straßen der
Städte herum, feierten die Rückkehr zum Mutterland.
Etwas fassungslos, dass der Spuk tatsächlich ein
Ende haben sollte, stellte ich meinen Holzkoffer in die Zimmerecke, zwängte mich
in meinen viel zu eng gewordenen Anzug und landete in Brauers Keller in der
Marktstraße, wo Schnaps und Bier ausgeschenkt wurden.
Doch schon im September 1939 wurden die
ehemaligen Kareivis zwecks „Umschulung“ auf MG 34 und Preußentum zu den Fahnen
gerufen. Irgendwo in den ostpreußischen Regimentern trafen sich manche der
einstmaligen Leidensgenossen wieder und wurden schnell frontreif gemacht. Nur
gut, dass sie überhaupt eine kurze militärische Ausbildung erhalten hatten. Sie
kämpften auf allen Schlachtfeldern des zweiten Weltkrieges, starben oder
überlebten diesen grausamen Krieg und wurden Heimatlose.
1940 annektierte Russland Litauen. Das litauische
Herr blieb bestehen, musste sich jedoch russischen Verbindungsoffizieren
unterwerfen.
|
Quelle:
Verlorene Heimat! Wiedergefunden -!-,
Erinnerungen eines Memeler Bowke und Heydekrüger Lausbub von 1920 bis 1939,
Lübeck 1999 |
|