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400.000 Volt

 


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Hermann Sudermann


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70 Jahre LO Landesgr. NRW
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Nachdruck aus der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“ vom 14. November 1930

400.000-VOLT-KRAFTWERK FRIEDLAND
400-ВОЛЬТНАЯ ЭЛЕКТРОСТАНЦИЯ ФРИДЛАНД

Der Stausee und sein Wunder

So nüchtern unsere Zeit auch durch ihre zweckmäßige Technik sein mag, es gibt auch heute noch Wunderdinge in ihr, die ans Märchenhafte grenzen und die dem, der sie einmal gesehen hat, in seiner Fantasie unendliche Anregungen verschaffen.

Jahrhunderte lang – nein, in diesem Fall doch nur etwas mehr als ein Jahrhundert – lag friedlich und still die Stadt Friedland in der ruhigen ostpreußischen Landschaft. Nichts rührte sich und es schien sehr unwahrscheinlich, dass Friedland einmal zum neuen regen Leben erwachen würde. Wie so viele andere Städte und Städtchen unserer Provinz war es kaum einer Erweiterung, eines neuen Triebmittels fähig, das auf die ganze Stadt fruchtbar wirken kann. Aber da kam der große Krieg, da erhoben sich die Schwierigkeiten der Kohlenbeschaffung und die Techniker fingen an, in den engen Bergtälern der Mittel- und Hochgebirge Wasserläufe zu stauen, um so „weiße Kohle“ zu gewinnen. Als man sich in Ostpreußen auch solcher Kraftzentren bemächtigen wollte, merkte man, dass gerade die Alle ganz besonders dazu geeignet war. Tatsächlich, wer auf die Karte schaut, möglichst eine im Maßstab 1:25.000, der sieht, wie diese Alle sich als leibhaftiger lebendiger blauer Wurm durch eine für ostpreußische Bodengestaltung verhältnismäßig hüglige Landschaft schlängelt. Und gerade fünf Kilometer oberhalb von Friedland bildet sie ein paar ganz enorme Schleifen – Schleifen, die so stark sind, dass man sich denken könnte, sie würden sich bei besonders starkem Wasser einmal wieder berühren und von selbst einen Zirkel bilden, dessen Bett Baggermaschinen nur vertiefen brauchten, um einen weiten See zu schaffen.

Eines schönen Tages – man schrieb das Jahr 1920 – kamen Arbeiterkolonnen und das Tal wurde tatsächlich abgeriegelt. Ganz so einfach war es natürlich doch nicht, diesen Riegel, diesen künstlichen Wall mitten in die Natur des schönen Alletals mit energischer Faust hinein zu setzen. Eine unendliche Arbeit war nötig. Riesige Erdmassen wurden in Bewegung gesetzt, dass man sich überhaupt keine Vorstellung davon machen kann. Eine flüchtige Betrachtung dieses schmalen Dammes würde nicht erklären, welch enorme Arbeit für ihn nötig war. Man stelle sich die Strecke von Königsberg bis nach Elbing dicht bei dicht mit Großgüterwagen besetzt vor und diese Großgüterwagen sind bis oben mit Erde voll beladen. Dann erst hat man eine Vorstellung davon, wie viel Erdmassen bewegt werden mussten, um diesen Damm für das Kraftwerk Friedland zu bauen.

Der Eingang zur Unterwelt

Selbstverständlich – gewiß selbstverständlich solch ein Damm, den Techniker da einfach wie ein Strich auf dem Reißbrett in die Landschaft über Tal und Hügel hinein ziehen, wirkt wie ein Wunderwerk. Aber dieser schöne Wall, der entfernt etwas an die Deiche der friesischen Nordseeküste erinnert, ist ja eigentlich noch gar nicht das Wunderwerk, das dem Besucher in Friedland die Fantasie beflügelt und einen ewigen Eindruck hinterlässt. Dazu ist es gar nicht sonderbar und einmalig genug. Hinter ihm aber staut sich nun das Wasser der Alle auf, in einem gewaltigen Rücklauf der Flussgewässer, der bis nach Schippenbeil 15 Kilometer oberhalb reicht, wobei im Jahresmittel 25 Kubikmeter pro Sekunde in das Staubecken hinein schießen. Übrigens sind diese 25 Kubikmeter pro Sekunde gar nichts Besonderes, denn dieses hier noch kleine Flüsschen, die Alle, kann es zur Zeit der Schneeschmelze bis zu 400 Kubikmeter in einer Sekunde bringen.

Weit und gleichmäßig dehnt sich der Spiegel des Sees bis an den Horizont, bis zum Haus des Fischers, der sich mit seinen Booten und seinen Netzen hier gewinnbringend ansiedelte. An einer Stelle erreicht dieses stattliche Gewässer eine Tiefe von 18 Meter. Gerade an dieser Stelle liegt nun das Wunderwerk, fantastisch anzuschauen und unheimlich die Öffnung, welche direkt in die Unterwelt führt. Es ist, als ob eine mächtige Götterhand vom Himmel herab in die Fluten dieses Sees einen großen Zylinder in der Höhe von 18 Meter und im Durchmesser von 12 Meter hineingesetzt hat und oben reichen die Fluten bis an den Rand, während das Innere des Zylinders völlig frei ist. Der Mensch, das kleine Wesen, kann auf dem Rand dieses Zylinders winzig wie ein Insekt herum spazieren, sieht, wie die vom Wind gepeitschten Wassermassen an die Wände des Wunderwerks drücken, das dem gleichmäßigen Druck standhält. Das Merkwürdige ist schließlich – und das ist wirklich wie ein Märchen, dass dieser Zylinder da draußen im See durch einen Stichkanal weit unter der Sole des Deiches mit der Außenwelt verbunden ist, derart, daß in ihm bequem vom alten Allebett her ein Boot hinein fahren kann. Die Lösung des fantastischen Rätsels? Dieser Eisenbetonturm ist weiter nichts, als ein Ventil. Steigen die Wassermassen des Sees, so stürzen sie in einem mächtigen Schwalle über die Ränder des Turmes und fließen unten durch den Stichkanal ab, so dass niemals und in keinem Fall die Sicherheit des Deiches durch zu hohes Steigen der Flut gefährdet ist.

Gewaltsam hat der Mensch durch das Stauwerk in die Natur eingegriffen: den Lauf der Alle hat er nach seinem Wunsch und Willen gebrochen und ihn gilt es, in seiner unteren Strecke wieder gleichmäßig und so zu gestalten, das niemandes Interesse und Vorteil gestört wird. Neun Kilometer unterhalb des Kraftwerkes Friedland erhebt sich deshalb ein zweiter Riegel im Alletal, das Wasserkraftwerk Wohnsdorf, sehr idyllisch vor Kirche und Friedhof gelegen. Es hat in allererster Linie den Zweck, dem aufgeregten Fluß jene Ruhe wieder zu geben, die für seine Anwohner unbedingt nötig ist.

Turbinen und Kommandopult

Das hätte sich Napoleon, als er seine Grenadiere mit den Bärenmützen aus dem Talkessel der Alle heraus zum Sturm auf die preußischen Linien ansetzte, nicht träumen lassen, dass hier von diesem blutgetränkten Boden aus einmal große Teile der Provinz Ostpreußen mit Licht und Kraft versorgt werden würden. Dort, wo sich der Deich dem gewachsenen Boden am meisten nähert, steht das eigentliche Kraftwerk. Es ist im Grunde weiter nichts als ein mächtiges Ventil an dieser Stelle, wo der gewaltige Wasserdruck, eingeengt und gefangen, auf die Turbinen drückt und sie in rasende Umdrehungen treibt; an diese Turbinen sind wieder die Dynamomotoren gekoppelt. In dieser Seele des Werkes entsteht in den Generatoren die Kraft der Elektrizität. Wie ein Zauberschloß wirkt das Innere dieses roten Hauses im Alletal. Donnernd stürzen durch geöffnete Eisentüren die Wassermassen herein. Zwei bis drei Meter dick sind die Unterstände, die den Turbinen als Gehäuse dienen. Dieser lange Gang hat etwas von kriegsmäßiger Befestigung. Gedrungen wie ein Panzerfort und stark, jeden Schlag und Stoß der entfesselten Elemente auszuhalten, wehrhaft im wahrsten Sinne des Wortes ist dieses Bollwerk, wo durch kluge menschliche Erfindung Wasser in Kraft umgewandelt wird. Und dann erhebt sich bis zu zwanzig Meter Höhe in glitzernder Sauberkeit unmittelbar hinter diesem wasserfeuchten Gang der Turbinen das Maschinenhaus, in dem sich wie gebundene Giganten die drei großen Dynamos befinden, in denen sich das Geheimnis der Stromerzeugung vollzieht. Die Bewegung der Maschinen, die von doppelter Manneshöhe sind, ist so groß, dass ihre Achsen zu stehen scheinen, denn sie laufen 250 Umdrehungen in der Minute. Eine gestaffelte Kraft gleich einem wilden gezähmten Tier, gehorsam dem Menschen und minutiös bis aufs kleinste mit einem leisen Fingerdruck zu regeln.  

Die eine Wand des großen Raumes ist ein heller Glasstreifen und hinter ihm befindet sich das Gewirr von roten, lila und grünen Signallampen, Hebeln, Schaltern, Skalen, das die Kraft, die der Natur abgenommen wurde, dem Menschen dienstbar macht. Hier ist das berühmte Kommandopult, von dem man durch das Umlegen eines Hebels ganze Landschaften und Städte in Dunkelheit hüllen oder in blendender elektrischer Helle aufleuchten lassen kann. Hier lebt die ganze Provinz von Elbing bis hinauf nach Insterburg und Tilsit, soweit sie Licht- und Kraftstrom benötigt. Ein verantwortungsvoller Posten, der gleichmäßig Ruhe und Sicherheit verlangt. Dabei hat dieser Mann am Kommandopult nur die einfachsten Griffe zu machen: Die unheimliche Kraft hoher Spannungen, die gebändigt oder entfesselt dem Menschen zum Segen oder zum Unheil werden kann, wird durch diese einfachen Handgriffe erst einige hundert Meter entfernt in einem stillen ruhigen Hause, in dem man keinen Laut, kein rauschendes Wasser und kein Donnern der Motoren hört, in die Welt, in die Gefilde und Städte Ostpreußens hinaus jagt: das ist das Umspannhaus. Hier wird der 6.000-Volt-Strom der Generatoren, also jener Maschinen, die an die Turbinen gekoppelt sind, je nach Bedarf auf 60.000 oder auf 15.000  Volt Spannung gebracht. Ein Haus mit scheinbar wirrem und doch wohlgeordneten System von Röhren und Drähten kommt und geht aus Ölschaltern zu Porzellan-Kettenisolatoren und schließlich zur 60.000-Voltleitung. Wer hier herum geführt wird, auf den wird ängstlich acht gegeben; jeder Schritt vom Wege ab kann den elektrischen Funken, der zum Tode führt, blitzartig herstellen.

Wie atmet die Brust befreit, wie freut sich der Besucher, der aus dem Tor des Werkes ins friedliche Alletal heraustritt. Der Himmel hat sich aufgeklärt, die grauen Wolken, die etwas Schmermut und doch Zauberhaftes gaben, sind verschwunden und eine warme und würzige Spätherbstluft lässt aus den aufgeworfenen Ackerschollen eine herbe Feuchtigkeit aufsteigen. 

Quelle:
Königsberger Allgemeine - zweisprachige Zeitung, Nov. 2010,
www.koenigsberger-allgemeine.com;
http://www.koenigsberger-allgemeine.com/index.php/de/history/175-400---;
Königsberger Allgemeine: Information und Bestellformular
deutsche Netzseite: www.koenigsberger-allgemeine.com/index.php/de;
russische Netzseite: www.koenigsberger-allgemeine.com/index.php/ru;



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