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3. September 1939: „Bromberger Blutsonntag“ Wie hochsensibel das Verhältnis Deutschlands zu Polen trotz aller Versöhnungsrhetorik noch ist, beweist nicht zuletzt das Verschweigen einer historischen Schuld, die im Gegensatz zur Vertreibung der Ostdeutschen nach 1945 keinen Verweis auf eine kausale Reaktion auf deutsche Kriegsverbrechen verträgt. Am Sonntag, den 3. September und danach wurden in weiten Teilen des Siedlungsgebiets der sogenannten Volksdeutschen in Polen Massaker an Zivilisten verübt, teils von zurückweichenden polnischen Truppenteilen, teils von polnischen Milizen und einem entfachten Mob. Da sich besonders in der westpreußischen Stadt Bromberg (981 Morde) und in den angrenzenden Landkreisen die Zahl der getöteten Deutschen häufte, setzte sich nicht zuletzt durch die NS-Propaganda der Begriff des „Bromberger Blutsonntags“ durch. Unmittelbar im September setzten die Untersuchungen in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten ein, die namentlich etwa 5.500 Ermordete nachwiesen (JF 36/07 und 39/06). Später wurde durch eine „Sprachregelung“ des Reichspropaganda-Ministeriums vom 7. Februar 1940 die Veröffentlichung dieser Ergebnisse der „Posener Gräberzentrale über die Morde an Volksdeutschen in Polen 1939“ unterbunden und statt dessen die Zahl auf 58.000 mehr als verzehnfacht. Es dominiert die polnische Geschichtsschreibung Bezeichnend ist allerdings, daß derzeit in keinem deutschen Schulbuch die Septembermorde 1939 an den Volksdeutschen im polnischen Machtbereich thematisiert werden. Eine gegenwärtige wissenschaftliche Aufbereitung dieser Begebenheiten ist weder von irgendeiner deutschen Universität noch einem historischen Institut bekannt, neuere Forschungsergebnisse liegen aus den letzten Jahren nicht vor. Insbesondere das Schicksal der Volksdeutschen in Mittel- und Ostpolen mit vielen hundert Opfern – also weitab der Ereignisse in den bis 1919 zum Deutschen Reich gehörenden Provinzen Posen und Westpreußen – fand bisher in der Zeitgeschichtsforschung keine Beachtung. Die Kenntnis von den Ausschreitungen gegen Deutsche im September 1939 wirft auch auf die Verhältnisse in der vorherigen Zeit mit ihren Schikanen, Gewalttätigkeiten, Ausschreitungen, Unterdrückungen, durch die so viele Deutsche zur Abwanderung gezwungen wurden, ein deutliches Licht. Unliebsame Forschungsergebnisse hinsichtlich der deutschen Opferzahl werden jedoch unter Verschluß gehalten, „um das deutsch-polnische Verhältnis nicht zu stören“. Störend wären in diesem Sinne wohl Verweise wie auf die hetzerischen polnischen Presseartikel aus der unmittelbaren Vorkriegszeit – Zofia Zelska-Mrozowicka regte bereits in der Bromberger Zeitung Dziennik Bydgoski am 11. Mai 1939 unumwunden an, das deutsche Minderheitenproblem einfach mit „Totschlag zu lösen“ –, das per Warschauer Regierung angeordnete Aufstellen von Listen aller Volksdeutschen, was eine Verhaftung und Internierung (Instruktion K 03031) bereits vorwegnahm, oder die am 20. August 1939 öffentlich geforderten Übergriffe („Schlagt die Deutschen nieder, wo ihr sie trefft!“) auf die Volksdeutschen des oberschlesischen Woiwoden Michał Grażyński, die die Saat für den Haß des überregionalen Pogroms legten. Keine Revision der historischen Darstellung In der polnischen Geschichtsschreibung
dominiert die Darstellung, daß es sich bei den Pogromen um die unverhältnismäßige
Reaktion zurückweichender polnischer Truppen auf deutsche Heckenschützen in Bromberg
gehandelt habe – ungeachtet der Tatsache, daß es auch weitab dieser Gebiete zu ebensolchen
Pogromen kam. Die Veröffentlichung dieser Forschungsergebnisse bewirkte allerdings keine Revision der historischen Darstellung, sondern die Absetzung Jastrzębskis als historischer Direktor in Bromberg. Seinem ehemaligen Mitarbeiter Witold Stankowski, damals bereits schon habilitiert, blieb bis heute eine Professur versagt. Die aktuelle Auffassung der polnischen Geschichtsforschung dokumentiert der im Herbst 2008 von Tomasz Chinciński und Paweł Machcewicz herausgegebene Sammelband „Bydgoszcz 3-4 września 1939“, der die Diversanten-These vertritt. Seitens der deutschen Historiker wird diesen Einsichten nicht widersprochen. Im Deutschen Historischen Institut in Warschau (DHI) widmet sich Jochen Böhler seiner Lieblingsthese, wonach nicht erst 1941, wie von Hannes Heer und Jan Philipp Reemtsma behauptet, sondern bereits am 1. September 1939 der Vernichtungskrieg der Wehrmacht begonnen habe. Böhlers aktuelles Werk „Der Überfall“ wurde trotz dieser historisch sehr kühnen Schlußfolgerung vor einer Woche mit einer Verfilmung in der ARD gewürdigt. Da Fakten bekanntlich die beste Geschichte töten können, würde eine Beschäftigung mit den Pogromen gegen die Volksdeutschen seinem Plädoyer ohnehin nur schaden. Dabei wird die Akteneinsicht in die Forschungsergebnisse von August Müller (1895–1989), der in seiner Untersuchung von 1969 sogar noch zu höheren Opferzahlen als das Bundesarchiv kam, von der Historischen Kommission für die Deutschen in Polen e.V. am Herder-Institut in Marburg – federführend vom Gießener Historiker Markus Krzoska – blockiert. Ohnehin will die Kommission heute von ihren eigenen in den siebziger Jahren unter Patronage des renommierten Osteuropa-Historikers Gotthold Rhode nach intensiver Forschung gewonnenen Ergebnissen nichts mehr wissen, geschweige denn die wissenschaftliche Arbeit des 1990 verstorbenen Historikers fortführen. Akten sind in Posen sowie im Bundesarchiv unberührt In Rhodes „Niederschrift über das Ergebnis der Besprechung über die Dokumentation September 1939 am 26. Juli 1977 in Mainz“ wurde sogar noch festgehalten, „daß die noch fehlenden Manuskripte bis Frühjahr 1978 vorliegen müßten“. Außer Müller sollten noch acht weitere Autoren Beiträge abliefern. Der Gesamtumfang der Arbeit sollte 534 Druckseiten umfassen (Erlebnisberichte sollten auf keinen Fall aufgenommen werden). Aus ungeklärten Gründen kam es nie zu einer Publikation, das Projekt wurde nicht weiterverfolgt. Immerhin konnte Hans Freiherr von Rosen seinen Teilbeitrag über die Verschleppungsmärsche unter der Herausgeberschaft der Historisch-Landeskundlichen Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen 1990 im Westkreuz-Verlag publizieren („Dokumentation der Verschleppung der Deutschen aus Posen-Pommerellen im September 1939“). Dieses Buch ist heute jedoch nur noch antiquarisch erhältlich. Zu diesen Unklarheiten kommt hinzu, daß größere Aktenbestände über die Ausschreitungen in Mittel- und Ostpolen, die der sozialistische Publizist Otto Heike (1901–1990) aus Łódź angelegt hatte, heute laut Auskunft des Bundesarchivs „nicht vorhanden sind“. Im Bestand August Müller ist ein umfangreiches Schreiben von Heike überliefert, in dem dieser sogar die von ihm dem Bundesarchiv übermittelten Bestände mit der Signaturnummer benennt. Auch im Nachlaß Heikes, der in der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne liegt, sind offenbar keine Duplikate mehr vorhanden. Auf die überfällige Auswertung des
umfangreichen Aktenbestandes der Gräberzentrale für die Gräber der ermordeten Volksdeutschen
in den eingegliederten Ostgebieten, der seit Jahrzehnten von bundesdeutscher Forscherhand
unberührt im Posener Staatsarchiv (Centrala do Spraw Grobów Niemieckich w Polsce-Poznań
z lat 1939–1942) ruht, darf man wohl noch lange warten. Eine der größten Tragödien
der deutsch-polnischen Geschichte harrt auch nach siebzig Jahren ihrer historischen
Aufarbeitung – und das vermutlich nur, weil Deutsche die Opfer waren.
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