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Illegal mit Gottes Segen Als die früheren deutschen Bewohner des Kirchspiels Heiligenwalde, 22 Kilometer östlich von Königsberg Richtung Tapiau gelegen, 1991 ihre Heimat besuchten, wartete ihre Kirche in Heiligenwalde auf sie. Die Ordenskirche aus dem 14. Jahrhundert, ein Bau aus Feld- und Ziegelsteinen, stand unversehrt mitten im Dorf, und ihr Turm mit einem Stück Fachwerk grüßte die Ankommenden, die auf der neuen Autobahn auf das Dorf zufuhren. Die Deutschen trauten ihren Augen nicht. Früher führte der Weg von Königsberg nach Heiligenwalde nur über die Reichsstraße 1, über die Dörfer Arnau, Waldau, Pogauen, Hohenrade. Diesen Weg gibt es heute noch. Der Linienbus fährt, genau wie vor der sowjetischen Besetzung, inzwischen über eine glatt asphaltierte ehemalige Reichsstraße. Aber parallel zu dieser verläuft die neue Autobahn, und als die Heiligenwalder sich ihrem Dorf näherten, erblickten sie links von der Autobahn Ölpumpen. Auf den Feldern der Domäne, die heute links von der Autobahn liegt, wenn man von Königsberg kommt, wird Öl gefördert. Die Firma „Lukoil“ ist der Hauptbeteiligte. Unsere Mutter Ostpreußen hielt für die Heiligenwalder noch eine weitere Gabe bereit. Im Dorf trafen sie auf einen russischen Germanisten. Der Leiter der Schule, Georg Gawrilowitsch Artemjew, Deutschlehrer aus Sibirien, empfing die Deutschen, hatte sich bereits mit der Geschichte der Kirche beschäftigt und den Weg zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit bereitet. Wie war die Kirche erhalten geblieben? Die Sowchose „Rodniki“ nutzte sie als Getreidelager, ebenso wie die ältere und größere Katharinenkirche in Arnau, ein imposanter Backsteinbau am Pregel. Beide Kirchen zeigten Spuren dieser Nutzung. So hatte man in die Chorwand der Kirche von Heiligenwalde ein Scheunentor hineingeschlagen, um mit Traktoren in die Kirche fahren zu können. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, das Glas natürlich entfernt, der innere Eingang im Turm recht unansehnlich und der Eingangsbereich mit Sperrmüll gefüllt. In dem Anbau, durch den der alte Haupteingang führte, das sogenannte „Waffenhaus“, in dem vor dem Gottesdienst die Waffen abgelegt wurden, befand sich ein Schweinestall. Die Sakristei war unbegehbar, da mit Geröll gefüllt. Aber man muß alles in der richtigen Relation sehen: Die Kirche stand, äußerlich unversehrt. In dem Dorf standen das Pfarrhaus, die alte Schule, der Schulneubau von 1936, eine Reihe Häuser aus der Zeit vor der sowjetischen Besetzung, die Domäne - fast schämten sich die Heiligenwalder vor den Landsleuten, die oft nur noch ein Stück Wiese vorfanden, wo einst ihr Elternhaus gestanden hatte. Die Arbeit fing gleich an und war von Anfang an von Erfolgen und Rückschlägen geprägt. 1992 gelang es Georg Artemjew, die Kirche auf die Liste denkmalgeschützter Gebäude des Königsberger Gebietes zu setzen. „Kirche Heiligenwalde in Uschakowo“, so lautet die russische Bezeichnung unter der Nummer 15 der Liste. Der Winter 1992/93 brachte dem Turm einen schweren Sturmschaden bei. Das Dach bekam ein Riesenloch; wie ein aufgerissenes Maul sah es aus. Nun war das Gebäude, das 650 Jahre überdauert hatte, ernsthaft gefährdet. 1993 gründeten die Heiligenwalder in Minden den „Verein zur Erhaltung der Kirche von Heiligenwalde e. V.“. Pate stand der „Verein zur Erhaltung der Stadtkirche von Unna e. V.“, der seine Satzung als Vorlage gab. Man hatte bereits ein Ziel vor Augen: Pfingsten 1344 war das Dorf Heiligenwalde von Volkwin von Dobrin gegründet und der Grundstein der Kirche gelegt worden. 1944 war die Gründung vor 600 Jahren groß gefeiert worden. Nun sollte 1994 das 650jährige Bestehen des Dorfes und der Kirche gefeiert werden - in der Heimat, von Deutschen und Russen gemeinsam. Natürlich war die Sowchose noch der Nutzer der Kirche, aber in gutem Einvernehmen gab sie die Erlaubnis zu einem Gottesdienst. Doch die notwendigen Reparaturen durften gar nicht vorgenommen werden. Niemand war dazu befugt, denn die Kirche hatte „keinen Herrn“. Doch die Heiligenwalder entschieden sich für die Illegalität. Es ist dem Mut von Georg Artemjew zu verdanken, daß er das Turmdach restaurieren ließ, denn er mußte mit persönlichen und dienstlichen Repressalien rechnen. Der Turm bekam neue Balken und ein Dach aus Kupferblech, das den Heiligenwaldern entgegenleuchtete, als sie im Juni 1994 zur großen Feier kamen. Der Gottesdienst war ein Medienereignis, das vom Königsberger Fernsehen und vom Ostsee-Report begleitet wurde. 1944 hatten zwei Pfarrer aus der Heiligenwalder Pfarrersfamilie Waldorff-Hanne den Festgottesdienst gehalten. Nun hielten zwei Pfarrer aus derselben Familie, Dietrich Walsdorff und sein Vetter Peter Hanne, den deutschen Gottesdienst, der ins Russische übersetzt wurde. Russische Schulkinder aus Heiligenwalde sagten das „Vaterunser“ auf deutsch auf, und nach 50 Jahren ertönte in der Kirche wieder „Lobe den Herren“. Bei dem anschließenden Fest am Pregel mit Fischsuppe und Schaschlik (die Sowchose hatte ein Schwein spendiert) waren die deutschen und die russischen Heiligenwalder zu Hause. Ein Höhepunkt, ein Etappensieg! Wie dornenreich der Weg noch werden sollte, das liegt erst heute, zum 660. Jubiläum der Kirche und des Dorfes, offen da. Aber es ist ein Jubiläum, ein Anlaß zum Jubel. 1994 wurde im Herbst der russische „Verein zur Erhaltung der Kirche von Heiligenwalde“ unter dem Vorsitz von Georg Artemjew gegründet, ein Partnerverein des deutschen Vereins, der die Übergabe der Kirche anstrebte. Die Sowchose mußte zur Herausgabe der Kirche bewogen werden, ein schwieriges Unterfangen, da sie einerseits keinen schriftlichen Beleg für ihr Nutzungsrecht hatte, andererseits aber auf das Gewohnheitsrecht verwies. Die behördlichen Zuständigkeiten waren ebenfalls ungeklärt. Und so begann ein jahrelanger Weg zu den Ämtern und Stellen. Die Vorsitzenden der Vereine, Georg Artemjew auf russischer und Bärbel Beutner auf deutscher Seite, besuchten unermüdlich vor allem die Behörde für Denkmalschutz. Es kamen immer neue Auflagen: ein erstes und zweites Gutachten, ein Nutzungskonzept, ein Nachweis der Finanzierungsmöglichkeiten, ein Nutzungsvertrag - aber die Übergabe der Kirche kam nicht. Die Direktoren des Denkmalschutzamtes kamen und gingen. „Ich habe schon vier Direktoren überlebt!“ stellte Georg Artemjew fest. Und dann war im Jahre 2000 die Denkmalschutzbehör- de plötzlich nicht mehr zuständig; nun lief alles über das Amt für Liegenschaften - wieder bei Null? Doch der liebe Gott ist auf der richtigen Seite: dieser Weg führte endlich zum Erfolg. Die Sowchose erhielt eine Ablösungssumme und übergab die Kirche an die Administration in Neuhausen. Diese übergab sie an die Administration in Waldau, also an den für Heiligenwalde zuständigen Bürgermeister, und dieser sollte die Kirche der Schule in Heiligenwalde und dem russischen Verein übergeben. Am 24. Mai 2002 hielten die Vertreter der beiden Partnervereine die Übergabeakte in den Händen - es war geschafft. Nun konnte legal gearbeitet werden. Kleinere Arbeiten waren auch in den Jahren der Stagnation gemacht worden: Reparaturen am Dach, ein neues Dach auf dem Waffenhaus, Beseitigung von Mauerrissen in der Sakristei, und das Schwein war in gutem Einvernehmen ausgezogen. Jetzt stand der größte Schritt bevor: die Restaurierung der Chorwand. Ein tüchtiger Baumeister aus dem Dorf wagte sich mit seinen Gehilfen an das Projekt, und im Herbst 2002 erblickte die Vorsitzende des deutschen Vereins bei trübem Wetter und kaltem Regen die neue Wand, aus Feld- und Ziegelsteinen wie vor der sowjetischen Besetzung, mit zwei Fenstern, während vor der Besetzung noch eine Tür in der Chorwand gewesen war. Doch heute gilt: nicht mehr Eingänge als nötig. Der Bauabschnitt war ein deutsch-russisches Kind. Im August 2002 hatten der stellvertretende Vorsitzende des Vereins, Fritz Schwarz, und das Vorstandsmitglied Günter Legat, beide Baufachleute, die Entwürfe gemacht und vor Ort mit dem russischen Baumeister Victor Michailowitsch Staruschkin die Planungsgespräche geführt. Der nächste Schritt waren die Fenster. Eine Vorstandssitzung in Westdeutschland entschied Glasbausteine, die Vorsitzende war skeptisch - und überwältigt von dem Ergebnis im Sommer 2003. Die schmiedeeisernen Gitter waren gereinigt und aufgearbeitet worden - die Kirche erstrahlte in neuem Glanz. Inzwischen sind die Türen erneuert, am Haupteingang und am Turm, die Sakristei ist innen restauriert und der Waffenraum ebenfalls. Die Nutzungssituation der Kirche hat sich anders und vorteilhafter entwickelt. Das Gymnasium Nummer 2 in Neuhausen, eine der am besten geführten Schulen der ganzen Russischen Föderation unter der Leitung von Anton Iwanowitsch Denissok, hat die Kirche übernommen. Sie wird Museum und Kulturhaus und von der Schule für Veranstaltungen, Konzerte und dergleichen genutzt werden und im Schulprogramm für Geschichte und Landeskunde präsent sein. Entsprechende Unterrichtsprojekte sind bereits angelaufen. Es gibt noch sehr viel zu tun, und die Beteiligten wissen auch, was Geldsorgen sind, denn bisher wurde alles aus privaten Spenden bezahlt. Der alte Glanz dieses samländischen Kleinodes wird bestimmt nicht wiederherzustellen sein. Die Kirche hatte einen barocken Beichtstuhl von 1673, hergestellt von dem Heiligenwalder Handwerker Christian Klodssey, ebenso eine Kanzel von 1675. Die Orgel wurde 1761 bei Preuß in Königsberg gebaut. Kunstwerke waren auch die Emporen und das Gestühl, über das in dem Werk „Die Kirchen im Samland“ von Walter Dignath und Herbert Ziesmann nachgelesen werden kann. Nach Aussagen russischer Freunde gab es die Empore noch Ende der 40er Jahre. Heute ist alles verschwunden. Die Heiligenfiguren, eine gotische Madonna mit Kind, eine gotische Heiligengruppe und eine Kreuzigungsgruppe sollen nach Litauen verkauft worden sein. Die Kunstwerke, von Dignath und Ziesmann detailliert beschrieben, lassen sich nicht mehr rekonstruieren. Aber daß die Kirche äußerlich unbeschadet steht, daß sie die Wirrungen des 20. Jahrhunderts überstanden hat, daß sie so viele Menschen zusammengeführt und Russen und Deutsche zu einer familiären Verbindung zusammengebracht hat - das muß an dem Geist des Pfingstfestes liegen, der da weht, wo er will. B. B.
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