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Szimken, die Holzflößer auf
der Memel
von
Otto Glagau
Tilsit war bis vor Kurzem ein lebhafter und ist
noch immer ein rühriger Fabrik- und Handelsort. Von den wenigen Fabriken, die
Littauen überhaupt aufzuweisen hat, befinden sich die meisten und bedeutendsten
in Tilsit. Eine Papierfabrik und fünf Holzdampfschneidefabriken sind durch
großartigen Betrieb besonders wichtig. Ein wesentlicher Nahrungszweig ist auch
hier wieder das für Littauen so charakteristische Branntweinbrennen. Der hier
alljährlich stattfindende Pferdemarkt ist der bedeutendste der Provinz und lockt
Käufer aus ganz Deutschland und dem Auslande herbei. Schon die Wochenmärkte
bieten ein buntes und bewegtes Bild. Die Bauern kommen mit ihren Erzeugnissen
schaarenweise, oft aus weiter Entfernung, zu Markt; Tilsit hat ein Hinterland
von 8 bis 12 Meilen im Umkreise, eine in Deutschland wohl einzig dastehende
Erscheinung. An den Markttagen herrscht ein erstaunliches Gewühl, ein
wunderliches Sprachengewirr und eine ungemeine Thätigkeit. Es drängen sich
durcheinander Littauer, Polen, Russen, Juden in ihrer Nationaltracht; und die
Littauer sind wie die Juden geborene und verschlagene Händler. Wie man an den
Kaufläden und Wirthschaften neben der deutschen Inschrift auch eine littauische
und polnische, oft auch russische und jüdische findet, so schwirren auf dem
Markte alle diese Sprachen durcheinander und erfüllen mit ihren theils
singenden, theils heulenden, theils zischenden Lauten die Luft.
Die Einwohnerschaft selbst ist aus solch
verschiedenartigen Elementen zusammengesetzt; alle jene Nationalitäten und
Konfessionen wohnen hier, wenn sie nicht etwa über materielle Interessen in
Streit gerathen, friedlich und verträglich neben einander. Die dienende und
arbeitende Klasse sind vorwiegend Littauer, wogegen die oberen Schichten aus
Deutschen bestehen; doch unterscheiden sich diese wieder in eingeborene Preußen
und eingewanderte Deutsche, unter welchen sich viele Salzburger und Mennoniten
befinden.
Die breite, stets mit zahlreichen Kähnen und
Flößen bedeckte Memel führt der Stadt die Produkte des benachbarten russischen
Littauens zu, besonders Holz, Flachs, Hanf, Leinewand und Getreide, mit welchen
Tilsit, wenngleich es in dieser Hinsicht seit den letzten Jahren verloren hat,
noch heute einen einträglichen Zwischenhandel nach Königsberg hin betreibt. Die
verschiedenartigsten, zum Theil seltsam anzusehenden Fahrzeuge segeln und treibe
stromauf und stromab. Ganze Wälder schwimmen vorüber; mächtige Fichten, Tannen
und Eichen, wie sie auf unserem Erdtheil nur noch in den russischen Urwäldern
wachsen; rohe Bäume oder behauene Stämme, Klötze und Planken, Brennholz und
Nutzhölzer. Sie sind zu gewaltigen Flößen und Triften verbunden, auf welchen die
Mannschaft schreiend hin und her läuft, indem sie ihr schwankes plumpes Fahrzeug
mittels langer Stangen bald schiebend, bald rudernd oder treibend fortbewegt,
vom Ufer oder von anderen Fahrzeugen mehr oder minder geschickt abhält. Auf
diesen Flößen ist gewöhnlich eine Strohbude errichtet, zugleich die
Vorrathskammer und das Schlafgemach der Mannschaft, dieser abgehärteten und fast
bedürfnißlosen Naturmenschen, welche im Munde des Volkes Dzimken heißen, da sie
vorzugsweise aus Samogitien oder Szamaiten rekrutiren, wie der schmale
Landstrich jenseits der Grenze heißt, welcher das preußische Littauen vom
russischen trennt. Zuweilen tragen diese Flöße aber auch ein vollständiges
Bretterhaus aus mehreren Gemächern, einer Küche und einem verandaartigen Umgang
bestehend. Dann ist es die Wohnung des jüdischen Kapitäns, der nicht selten auch
Eigenthümer von Floß und Ladung ist und seine ganze Familie mit sich führt.
Andere nicht minder gigantische, oft mehrere
hundert Fuß lange Fahrzeuge führen nicht Holz, sondern Getreide, Leinsaat,
Flachs, Hanf, Felle und andere Produkte. Auch sie sind weiter nichts als ein
riesiges Floß von Baumstämmen, nur mittels Holznägel, Bastseile oder Hanfstricke
lose miteinander verbunden, so daß man an dem ganzen Ungeheuer nicht ein
Quentchen Eisen zu entdecken vermag. Die Ladung ruht hoch aufgethürmt unter
einem schrägen Bretterdach, oder ist mit Bastdecken beschnürt; im ersten Falle
heißen jene originellen Fahrzeuge Wittinnen oder Strusen, im andern Falle
Karopken oder Boidaks, je nach der etwas mehr oder minder abweichenden Struktur.
Meist gehören sie einem polnischen oder russischen Gutsbesitzer, der sie mit
seinen Gutsinsassen, den Dzimken, bemannt und diesen einen Juden als Schaffner
vorsetzt, dem man sowohl die Beaufsichtigung wie die Beköstigung der Mannschaft
obliegt. Zuweilen ist auch die Wittinne oder Karopke wieder vollständiges
Eigenthum eines jüdischen Unternehmers und die Dzimken stehen in seinen
Diensten. Für ihn ist auf der einen Seite des Schiffs ein Stübchen mit einem
Fensterchen von grünem Glase abgeschlagen, während die Schiffsleute in dem
Mittelraum, der sich hier nach beiden Seiten öffnet und eine rohe Vorrichtung
zum Ausschöpfen des Wassers enthält, auf das Elendste wohnen und schlafen.
Die Fahrzeuge fassen ungeheure Lasten, bis 3000
Centner und mehr, und kommen tief aus dem Innern Rußlands. Während des Winters
werden sie von den Dzimke gezimmert und zur Bereitung der Matten aus Lindenbast
die Wälder verwüstet. Sobald die Frühlingssonne das Eis der russischen Ströme
schmilzt, setzen sich formlose Kolosse dort in Bewegung, und es vergehen Monate,
ehe sie das Ziel ihrer Reise –Memel oder Königsberg- erreichen. Ihrer
gigantischen Dimensionen und sonstigen Schwerfälligkeit wegen, können sie sich
nur langsam fortbewegen; sie fahren nur bei Tage und legen sich, um ein
Zusammenstoßen mit anderen Fahrzeugen zu vermeiden, sobald die Dunkelheit
einbricht, an das Ufer; sie dürfen sich nicht auf das kurische Haff wagen,
sondern müssen stets den gewundenen Lauf der Flüsse und Kanäle, oft vom
Schwarzen Meer bis zur Ostsee verfolgen.
Schwer und mühsam ist das Tagewerk der Dzimken;
sie müssen, da ihr leckes Schiff viel Wasser fängt, beständig die Schöpfeimer
handhaben; um die mächtigen Ruder zu bewegen, sind bis je vier Mann nöthig; sie
haben mit unendlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, da die Fahrzeuge fünf Fuß
Wasser brauchen und in trockenen Sommern auf der Memel und auf dem Pregel, die
an seichten Stellen reich sind, leicht festgerathen. Mit der schweren Arbeit
steht die magere Kost in keinem Verhältniß. Die gewöhnlichen Speisen sind
Kartoffeln, Grütze und Mehlbrei, die sie sich am Ufer in riesigen Kesseln und
Töpfen selber kochen und die sie aus hölzernen Näpfen und Mulden mit hölzernen
Löffeln verzehren. Fleisch kommt fast gar nicht vor, nur thun sie statt der
Butter etwas Speck an die Speisen, den sie auch roh zum Brode genießen.
Galstriger Speck und Kornfusel sind ihre größten Leckereien.
Nichts geht über die Einfachheit und den
primitiven Schnitt ihrer Kleidung. Sie tragen einen langen Oberrock von grobem
grauen Filz, oder auch einen umgekehrten Schafspelz, ein grobes Leinenhemde, auf
der Brust offen, dito Hosen, eine Pelzmütze mit Troddeln, oder eine großen
Strohhut, und an den Füßen Bastschuhe, sog. Parresken. Der Dzimke hält dafür,
daß Pelzwerk eben so gut gegen Hitze wie gegen Kälte schütze, deshalb wendet er
Sommers den rohen Schafpelz um, so daß die wollige Seite nach außen kommt. einer
trägt sich wie der Andere. „Wie die Bretter, der Hanf, die Matten aussehen, so
sehen auch die Dzimken aus, sagt Rosenkranz in seinen „Königsberger Skizzen“;
sie gleichen dem Insekt, das noch die Farbe der Pflanze hat, auf der es sein
Leben führt.“ Nur die älteren unter ihnen, welche die Fahrt schon mehrmals
gemacht haben, zeigen sich gegen die Berührung mit der Kultur nicht ganz
unempfänglich. Sie vertauschen die Bastschuhe mit Stiefeln, den Strohhut mit
einer Mütze; sie treiben sich in den Städten auf dem Trödel umher und kaufen
sich eine bunte Weste, ein farbiges Wamms oder ein grellleuchtendes Halstuch.
Solche Kulturfragmente passen nur zu wenig zu ihrer übrigen Tracht. Mit den
Knaben stehen sie in beständigem, von Neckereien begleiteten Tauschhandel. Sie
geben ihnen nämlich Stöcke, die sie oft recht hübsch zurecht machen, gegen
Knöpfe, besonders Metallknöpfe, die für sie einen großen Reiz haben. Die Dzimken
sind von schlanker Gestalt, mittlerer Größe, oft von einnehmender, sogar
hübscher, aber gewöhnlich etwas einfältiger Physiognomie, mit dunklem dichten
Haar und hellen gutmüthigen Augen. Gutmüthig und friedlich ist auch ihr ganzes
Wesen, fast kindisch. Obschon sie in großen Städten oft zu Hunderten beisammen
sind, hört man doch nichts Uebles von ihnen, weder von Verbrechen noch Excessen.
In behaglichem Müßiggang schlendern sie dort durch die Gassen; die
Kinderspielwaaren in den Buden, ein Reiter oder eine Musikbande fesseln sie
mehr, als die größten Gebäude, die merkwürdigsten Plätze, welche sie in der
Regel keines Blickes würdigen.
Trotzdem die Dzimken buchstäblich nichts weiter
als das nackte Leben besitzen, sind sie stets heiter und lustig. Scherzend und
lachend, sich untereinander und mit den Vorüberfahrenden neckend, immer
schwatzend verrichten sie ihre Arbeit. Abends sieht man sie um das Wachtfeuer
gelagert, das wieder, um einen Zusammenstoß zu verhüten, die ganze Nacht
hindurch auf jeder Wittinne und jeder Karopke unterhalten wird; an gewissen
Orten, wo oft Dutzende solcher Fahrzeuge nächtigen, sind dann die dunkeln Wasser
des Stromes in magischer Weise beleuchtet. Bei diesen Nachtfeuern erschallen die
langgezogenen wehmüthigen Rund- und Chorgesänge der Dzimken; alsbald greift
Einer von ihnen zur Violine oder zum Dudelsack, die Anderen fassen sich bei den
Händen und springen und tanzen im Kreise herum. Der Tanz ist oft ein Solo, oft
ein mimisches Gegeneinander- und Umhertanzen von Zweien, wobei das schnelle
Sichumwerfen besonders interessirt. Der Oberkörper bewegt sich wenig, aber die
Füße sind in kleinen zierlichen Wendungen und Sprüngen unerschöpflich. Die im
Ganzen schwächliche Gestalt des Dzimken entwickelt im Tanz alle Schönheit, deren
sie fähig ist. Die Violine spielt eine hopferartige Melodie, Tänzer und
Zuschauer klatschen mit schallenden Händen den Takt, der Eine oder der Andere
bricht auch wohl in ein helles Jauchzen aus. So geht es bis in die späte Nacht,
allmälig legen sich Einige zur Ruhe nieder, während die Übrigen in ihrer
Belustigung fortfahren und um die schlafenden Gefährten herumgaukeln, bis auch
sie erschöpft zu Boden sinken.
Nicht allein die Ladung, sondern auch das
Fahrzeug selbst mit Strohhütte, Bretterhaus und allen sonstigen Utensilien, wird
in Königsberg oder Memel losgeschlagen, denn holz und Stroh sind in der
russischen Heimat fast werthlos, und die Wittinnen wie Karopken vermögen nur
stromab, nicht stromauf zu fahren. Die Dzimken erhalten nun ihren kärglichen
Lohn, der bis vor Kurzem, wo sie sich noch in Leibeigenschaft befanden, nicht
mehr als Einen Rubel pro Mann für die ganze Reise betrug; und verwenden ihn
meist zum Ankauf einer Handharmonika, einer neuen Geige oder eines schmucken
Pfeifenkopfs von Birkenmaser mit Neusilberbeschlag. Seelenvergnügt treten sie
die Rückreise an; wenn sie nicht ausnahmsweise ein Dampfboote benutzen, wandern
sie zu Fuß und in großen Trupps. Sie marschiren auf der staubigen Chaussee bei
der glühendsten Augusthitze, aber immer in umgekehrten Schafpelzen und dicken
Filzröcken. Eine Anzahl, mit den neuerstandenen Harmonikas und Geigen bewaffnet,
die sie abwechselnd während des Marsches erschallen lassen, geht voran, die
Uebrigen laufen singend und jauchzend, springend und tanzend hinterdrein. Ab und
zu macht dann die Flasche die Runde; so gleicht die Schaar einem Bacchantenzug.
Jeder Dzimke ist ein geborener Musiker, und seine höchste Lust sind Musik und –
Schnaps.
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Quelle:
„Littauen und die Littauer,
Gesammelte Skizzen“, Tilsit 1869
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