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Tumulte in Potsdam Tumulte, Wasserbomben, Polizeieinsatz: Nach Protesten sagte Erika Steinbach eine Vortragsreihe an der Uni Potsdam ab. Die Vertriebenen-Chefin wollte über die "Siedlungsgeschichte der Deutschen in Ostmitteleuropa" referieren. Studenten witterten völkisches Gedankengut. WELT ONLINE dokumentiert die verhinderte Vorlesung. Als im Mai 2004 der neunte Bundespräsident gewählt wurde, fasste eine Zeitung die zuvor gelaufene mitunter skurrile Debatte unter der Überschrift „Mysterium der Herkunft“ zusammen. Kaum jemand konnte die bessarabischen Wurzeln der Flüchtlingsfamilie Köhler verorten. Die Heimat der Vertriebenen und viel mehr noch ihre Siedlungsgeschichte, die bis tief ins Mittelalter zurückreicht, liegt für die meisten Deutschen im Dunkeln. Am Beispiel unseres Bundespräsidenten wird deutlich, wie vielfältig und wie unbekannt die Geschichte der Vertriebenen, Flüchtlinge, Um- und Aussiedler ist. Eines haben sie alle gemeinsam: Ihre Schicksale und ihre Siedlungsgeschichte sind Teil der europäischen Geschichte und sie gehören zu unserer nationalen Identität. Die hoch- und spätmittelalterliche Ostsiedlung Vor Jahrhunderten sind umwälzende, überwiegend gewaltlose Siedlungsprozesse in Gang gekommen, die das östliche Mitteleuropa und Teile von sowohl Ost- als auch Südosteuropa bis in die Gegenwart prägen. Versuche, nationalistische oder ideologische Erklärungsmuster zu konstruieren, überlagerten dabei häufig die tatsächlichen historischen Vorgänge. Selbst wenn der zumeist bäuerlichen Besiedlung eine staats- oder lehnsrechtliche Inkorporierung einzelner Territorien in das „heilige römische Reich deutscher Nation“ folgte, geschah dies nicht gezielt, sondern um Jahrzehnte zeitversetzt – etwa in Mecklenburg. In manchen Regionen existierte eine flächendeckende deutsche Besiedlung bereits Jahrhunderte vor einer tatsächlichen Anbindung an das Reich – wie etwa in Schlesien – und die deutsche Ostsiedlung reichte bereits im Mittelalter in Gebiete, die weder damals noch später zum Reich gehörten: so Pannonien, Siebenbürgen oder Klein-Polen um Krakau. Frieden zwischen Germanen und WendenDie hoch- und spätmittelalterliche Ostsiedlung bis zum 14. Jahrhundert war ein Teil eines größeren Vorgangs, der ganz Europa umfasste und veränderte. Die Bevölkerungswanderungen bewegten sich dabei keineswegs einseitig Richtung Osten. Die dünn besiedelten Gebiete östlich der Elbe-Saale-Linie zogen zunächst Stämme der „Wenden“ (lateinisch: „Sclavi“) an. Im 8. Jahrhundert reichte ihre Siedlungsgrenze bis etwa an die Linie Kiel-Triest. Bodenfunde aus Siedlungen und Gräberfeldern belegen das friedliche Zusammenleben und die gegenseitige Beeinflussung der germanischen und der wendischen Bevölkerung. Zunehmende Auseinandersetzungen zwischen Germanen, Slawen und Magyaren führten im 10. Jahrhundert dazu, dass sächsische und karolingische Herrscherfamilien die Elbe-Saale-Enns-Linie als Ostgrenze des eigenen Königreichs verteidigten. Die heidnischen Obodriten, Liutizen, Wenden und andere elbslawische Stammesverbände standen in einem scharfen kulturellen Gegensatz zum christianisierten mittleren Europa. Für die Härte der Glaubens-Auseinandersetzungen zeugte der Slawenaufstand von 983. Mit der sich rasch entwickelnden Staatlichkeit bei Polen, Tschechen und Ungarn setzte eine gegenläufige Entwicklung ein. Der polnische Fürst Mieszko legte nach schweren Niederlagen gegen das ostfränkisch-sächsische Reich 963 Otto I. und Gero den Treueeid ab. Nach der Hochzeit mit Dubrawka, der Tochter Fürst Boleslavs I. von Böhmen, erhielten er und sein gesamtes Reich 966 die Taufe in Posen. Eroberung im Namen der ChristianisierungIm Namen der Christianisierung versuchte er in der Folge, weiteres Land von heidnischen Slawenstämmen zu erobern. Mit dieser Christianisierung Polens Mitte des 10. Jahrhunderts und Ungarns zu Beginn des 11. Jahrhunderts unter Stephan dem Heiligen erwachte eine Periode lebhafter kultureller Beziehungen. Insbesondere kirchliche Amtsträger initiierten die Siedlungsbewegung. Tragende Säulen der mittelalterlichen Wirtschaft waren die zahlreichen Klöster. Die Orden – insbesondere die Zisterzienser – leisteten mit Gründungen wie Lebus, Doberan, Eldena und Oliva, Zinna und Chorin, gerade bei der Kultivierung schwieriger Siedlungsgebiete, Pionierarbeit. Im 11. und 12. Jahrhundert nahm die Bevölkerung des Abendlandes insgesamt stark zu. Franzosen richteten ihren Blick zur Neusiedlung nach Spanien, wo ganze Landstriche von der Maurenherrschaft befreit wurden. Bewohner der Niederlande, des Rheinlands und Altdeutschlands wanderten Richtung Osten. Sie brachten dabei neue Siedlungsmodelle mit, etwa die verschiedenen Stadtrechtsformen. So wurde an der Ostsee bis ins Baltikum Lübisches Stadtrecht zum Vorbild genommen, in Mittel- und Ostdeutschland Magdeburger und im böhmischen Raum Nürnberger Stadtrecht. Abodriten, Greifen, PremyslidenDie Besiedlung im Bereich des späteren Mittel- und Ostdeutschland war aber keine Angelegenheit des Reiches. Ihren Ausgang nahm die Siedlungsbewegung in den flämischen und holländischen Moorkolonisationen im 11. Jahrhundert. Hundert Jahre später kultivierten Neusiedler die Sumpf- und Ödländereien an der unteren Weser und im Mittelgebirge. Im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts wurden dann das östliche Mecklenburg, das westliche und mittlere Pommern, Brandenburg, Schlesien, die nördlichen, westlichen und südlichen Randgebiete Böhmens und Mährens besiedelt. In Siebenbürgen entstand seit dem 12. Jahrhundert ein geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet. Im 14. Jahrhundert schließlich verlagerte sich das Schwergewicht der Siedlungstätigkeit nach Ostpommern, in das Gebiet um Danzig, nach Ostpreußen, Oberschlesien und in das polnisch-ungarische Grenzgebiet. Mecklenburg, Pommern, Brandenburg und Ostpreußen wurden überwiegend von Sachsen, Friesen, Holländern und Flamen besiedelt. Das südliche Mitteldeutschland hingegen, Schlesien und das Sudetenland von Franken und Thüringern, schließlich Österreich und Siebenbürgen von Alemannen und Bayern. Den slawischstämmigen Fürsten wie Abodriten, Greifen, böhmischen Premysliden oder den schlesischen Piasten war es nicht entgangen, dass es sich für sie auszahlte, Siedler aus dem Westen anzuwerben. Die Öffnung der slawischen Herrscherhäuser nach Westen, verbunden mit Heiratsdiplomatie und Christianisierung, begünstigte die deutsche Ostwanderung des 12. und 13. Jahrhunderts. Große Hochzeiten dieser Zeit waren die zwischen dem Piastenherzog Heinrich I. mit Hedwig von Andechs (Heilige Hedwig) oder etwa die König Ottokars I. von Böhmen mit Adelheid von Meißen. Von diesen friedlichen Besiedlungen hob sich das Schicksal der Prußen, die sich der Christianisierung hartnäckig widersetzten, ab. Der polnische Herzog Konrad von Masowien aus der Piastendynastie versprach dem 1220 neu auftretenden Deutschen Orden das Kulmer Land und weitere Eroberungen für den Fall des Sieges. Die Dimensionen der Ostwanderung des 12. und 13. Jahrhunderts machte die Zahl von 400.000 Siedlern, die in den Osten gingen, deutlich. Das waren etwa 7 Prozent der Bevölkerung in Altdeutschland. Verkehrsgeographische Verhältnisse bestimmten die Wege der Siedler. Niederfränkische, friesische und sächsische Siedler folgten der Ostseeküste nach Ostpreußen, Livland, bis in den finnischen Meerbusen. Franken und Thüringer zogen am Nordrand des Erzgebirges und der Sudeten nach Osten. Alemannische und bayrische Siedler folgten dem Lauf der Donau, von wo aus sie das Burgenland, die Täler der Ostalpen und einige nördlich angrenzende Gebiete Böhmens und Mährens besiedelten. In dieser Zeit bildeten sich auch in Ungarn, im späteren Slowenien und Kroatien und im nordöstlichen Italien deutsche Siedlungen. Als die Hanse aufblühteVon der Mitte des 12. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts hatte sich die deutsch besiedelte Fläche trotz der hohen Verluste durch die Mongoleneinfälle (Lesen Sie auch: "Mongolensturm – Die Schlacht bei Liegnitz") fast verdoppelt. Zahlreiche ältere slawische Siedlungen wurden zu Städten ausgebaut und mit Stadtrechten ausgestattet: Lübeck (1143), Riga (1204), Breslau (1211/36), Danzig (1224/66), Posen (1253) oder Königsberg (1255). Die Neugründungen an der Ostseeküste erhielten zumeist Lübisches, die im Landesinneren häufig Magdeburger Stadtrecht. Zahllose Unternehmen, Handwerksbetriebe, Schifffahrts- und Bergbau-Gesellschaften wurden gegründet. Nicht nur die Hanse blühte auf. Die lebhafte Besiedlung endete um das Jahr 1350 nahezu abrupt. Eine verheerende Pestepidemie, die von 1347 bis 1349 in großen Teilen Europas wütete, war einer der Gründe. Die Verwandtschaft der Slawen und DeutschenDie Ostsiedlung vollzog sich fast ausschließlich unter den ökonomischen Gesetzen der mittelalterlichen Gesellschaft und ohne äußeren Zwang. Nationale Zielsetzungen spielten dabei keine erkennbare Rolle. Dass dadurch weite Teile Mitteleuropas innerlich deutsch wurden, war kein strategisches Ziel, sondern ein Ergebnis der Wanderungsbewegungen. Auf ein überwiegend friedliches Miteinander deutet ein Zitat des polnischen Bischofs von Posen, Bogufal II. (bzw. Gottlob) aus seiner um 1250 geschriebenen „Großpolnischen Chronik“ hin: „Es hat kein anderes Volk auf dieser Welt mit einem anderen soviel Gemeinsamkeit und Verwandtschaft wie die Slawen und die Deutschen.“ Die umfangreichsten Siedlungsbewegungen erfolgten in der Neuzeit nicht mehr in Richtung Mittel- sondern nach Südosteuropa. Die Siedlungsgeschichte nicht nur der Deutschen verzeichnete nach der spätmittelalterlichen Ostsiedlung einschneidende Katastrophen: Hussiten-Kriege und das Vordringen der Osmanen auf dem Balkan. Die Eroberungen der TürkenIm damals ungarischen Siebenbürgen führten die Eroberungen der Türken (Lesen Sie auch: "Lepanto – Türkenschlacht am Mittelmeer") im 15. und 16. Jahrhundert zum Zerfall des bis dahin geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in vier Teilgebiete: Königsboden, Hermannstädter Provinz, Nösner- und Burzenland. Die meisten aus dem Mittelalter stammenden deutschen Kolonien in Alt-Ungarn gingen unter. Zahlreiche Städte fielen in türkische Hand und wurden zerstört. So auch Ofen 1541 (das spätere Buda). Die überlebende Bevölkerung wurde zum Großteil in die Sklaverei verschleppt. Die Rückeroberung setzte Ende des 17. Jahrhunderts ein. Nach der Wiedereroberung Ofens im Jahre 1686 bauten Deutsche die Schwesterstädte Ofen (Buda) und Pest wieder auf. Budapest – erst seit 1873 als Stadt vereint – war zwei Jahrzehnte überwiegend von Deutschen bewohnt, noch 1857 hielten die 60.000 Deutschen einen Anteil von 56 Prozent der städtischen Einwohnerschaft. Mit den Friedensschlüssen von Karlowitz (1699) und Passarowitz (1718) gab es die Möglichkeit von Wiederansiedlungen in den verwüsteten Gebieten im Donau-Raum. Die sogenannten „Großen Schwabenzüge“ in diese verwüstete Region (1722-26) und die Ansiedlung unter Maria Theresia und ihrem Sohn Joseph II. (1763-73 und 1782-87) basierten auf dem „Impopulationspatent“, der königlich-ungarischen Siedlungsverordnung. Bis 1838 wanderten so insgesamt 8.000 Schwaben hinzu. Menschen für die neuen GebieteVom Plattensee bis in das Ofener Bergland entstanden rund 130 deutsche Gemeinden, nach dem Ende türkischer Herrschaft über Südungarn auch in der Baranya, der Batschka – der Heimat unseres heutigen Erzbischofs Zollitsch - und im Banat, also dem heutigen Kroatien, Serbien oder Rumänien. Die ungarischen Fürsten unterhielten zahlreiche Werbeagenturen um neue Siedler zu gewinnen. Diese neuzeitliche Südostkolonisation im Donauraum brachte auch für die slawischen und romanischen Völker erhebliche wirtschaftliche Vorteile. So wie der Zerfall der osmanischen Herrschaft im Südosten zur Anwerbung deutscher Siedler führte, kam es nach dem Untergang der polnischen Adels-Republik durch die Teilungen zwischen 1772 und 1795 zu massiven Anwerbungen. Das liberale Preußen (das Preußische Allgemeine Landrecht war bei Inkrafttreten 1794 selbstverständlich zweisprachig – deutsch und polnisch - veröffentlicht worden), das bis zum Zusammenbruch 1807 ganz Masowien mit Warschau und Großpolen umfasste, brauchte Menschen für die neuen Gebiete. Bis weit ins 19. Jahrhundert waren dabei weder konfessionelle noch nationale Überlegungen die Triebfeder. Mit der Niederlage Preußens (1807) und dem Wiener Kongress (1815) fiel der polnische Bereich an Russland. Katharinas Einladung nach RusslandDie deutsche Ansiedlung in diesen Gebieten kam dennoch nicht zum Stillstand. Russland hatte einen immensen Bedarf an Siedlern, vor allem nach der Zerschlagung des Chanates der Krim-Tartaren. Zarin Katharina II. (Lesen Sie auch: "Das missverstandene Liebesleben einer Zarin") hatte bereits früher mit ihrem Manifest vom 22. Juli 1763 christliche Ausländer aufgerufen, nach Russland zu kommen. Rund 100.000 Deutsche folgten dem Aufruf, auch aufgrund der selbst nach heutigen Kriterien verlockenden Konditionen: unter anderem großzügige Zuweisung von unbebautem Land, Steuerfreiheit bis zu zehn Jahren, Befreiung vom Militärdienst, Religionsfreiheit. Die Siedler ließen sich streng nach Konfessionen
getrennt (Lutheraner, Katholiken, Mennoniten) nieder. Ihren Siedlungen gaben sie
oft Namen aus der alten Heimat, wie beispielsweise Karlsruhe im Wolgagebiet. Bis
1914 erhöhte sich in Russland die Zahl der Deutschen in ihren über 3.000 Siedlungen
auf 1,7 Millionen. Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, die sich über die Muttersprache oder die Abstammung definierte, wurde in dieser Zeit zu einem Abgrenzungskriterium zwischen den verschiedenen Volksgruppen. Schließlich wurden die zunehmende Betonung des Nationalstaatsgedankens und der ansteigende Nationalismus zum Problem gerade für die Vielvölkerstaaten. Das blieb auch für Deutsche nicht ohne Folgen. Gab es zum Beispiel 1872 in Ungarn noch 1.810 deutsche Volksschulen, so waren es 1881 nur noch 933 und schrumpften bis 1918 auf ganze 14 Schulen. Die deutschen Namen verschwanden durch Magyarisierung mehr und mehr. Nationalismus bis in die PaulskircheDer erwachende Panslawismus auch im Zarenreich hatte ebenfalls Auswirkungen auf die Siedler. Der wachsende Nationalismus reichte bis in die Paulskirchenversammlung nach Frankfurt am Main. Der am 2. Juni 1848 in Prag zusammengetretene Kongress der österreichischen Slawen proklamierte, dass die Frankfurter Beschlüsse „keinen slawischen Teil Deutschlands“ tangieren dürften. Das war ein deutliches Nein zu einer deutschen Einigung mit allen Teilen der Habsburgermonarchie. In der Mitte des 19. Jahrhunderts verfestigte sich mehr und mehr der Gedanke, dass Frieden nur in einem ethnisch homogenen Staat möglich sei. Die Radikalisierung dieser Ideologie trug ihre schlimmsten Früchte im 20. Jahrhundert. Mehr als 30 Völker Europas waren von Vertreibung betroffen. Allein 20 Millionen Deutsche wurden zwischen 1918 und 1950 entwurzelt. Der Nationalismus hat nicht zu mehr Frieden geführt, sondern die Menschen in größtem Ausmaß gegeneinander getrieben.
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