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Stettin - Szczecin 1945-1946 Dokumente - ErinnerungenAbschlußbericht des Bürgermeisters Erich Wiesner an das Zentralkomitee der KPD in Berlin über seine Tätigkeit in Stettin vom 14. Juli 1945Allgemeine Lage bis zum 25 Juni: Mitte Juni erfolgte über den Stadtkommandanten die Einreichung einer Petition an die Regierung der Sowjetunion, die gleichfalls auch den Parteiorganen zugeleitet wurde. Der Hauptinhalt der Petition war, daß die Ursache der unnormalen Verhältnisse der Stadt Stettin insbesondere auf die ungeklärte politische Lage zurückzuführen ist, das Kernproblem dabei ist die Polenfrage. Inzwischen verschärfte sich die Lebensmittelkrise. Die Kartoffelvorräte gingen zu Ende und die so gering bemessene Ration von 100gr. Brot täglich konnte nur an 70-80% der Bevölkerung ausgegeben werden. Dabei wuchs die Bevölkerungszahl täglich um 3.000-4.000 Menschen. Eine politische Erleichterung trat ein, als mir von seiten des Stadtkommandanten die Erklärung abgegeben wurde, daß der bisherige unhaltbare Zustand des Bestehens von zwei Stadtverwaltungen in Stettin (deutscher Oberbürgermeister und polnischer Stadtpräsident) beseitigt sei. Unter der Leitung des Stadtkommandanten gäbe es in Zukunft nur eine deutsche Bürgermeisterei, für die Polen bestünde lediglich ein Hilfskomitee ohne kommunale Rechte. Im Zusammenhang mit dieser Erklärung besetzte die Stettiner Stadtverwaltung im Einverständnis mit dem Stadtkommandanten eine Reihe Verwaltungsgebäude, und es wurden in den einzelnen Stadtbezirken Bezirksämter geschaffen. Eingreifen Marschall Shukows am 26. Juni: Am 25. Juni wurde ich nachts um 2 Uhr zum Kommandanten geholt, ein persönlicher Vertreter Marschall Schukows [Shukows] wollte mich sprechen. Aufgrund der Petition der Stettiner Stadtverwaltung stellte er Erhebungen an, besonders über die Ernährungslage. Am 26. Juni erschien wiederum ein Sonderbeauftragter Marschall Schukows, diesmal ein General, der mir erklärte, daß er den Auftrag habe, sofort die Lebensmittelversorgung Stettins zu organisieren. Er teilte die festgelegten Normen mit, und es wurde ein großes Plakat (Aufruf an die Bevölkerung) und Lebensmittelkarten in Druck gegeben. Weiter wurden alle Maßnahmen getroffen, daß bis zum 1. Juli alle Stettiner in den Besitz der Lebensmittelkarten kommen sollten, damit von diesem Zeitpunkt die normale Versorgung der Bevölkerung durchgeführt werden kann. Unser Ernährungsamt, durch eine Reihe guter Genossen verstärkt, arbeitete 24 Stunden hintereinander mit Hochdruck. Ebenfalls wurde die Maßnahme getroffen, daß ab 1. Juli 100 neue Geschäfte zur Lebensmittelversorgung geöffnet werden. Als das große Plakat zum Aushang gelangte, bildeten sich überall in den Straßen große Diskussionsgruppen, die freudig bewegt die Nachricht diskutierten, daß ab 1. Juli eine normale Versorgung mit Lebensmitteln durchgeführt werden soll. Am 27. Juni fand eine Sitzung des antifaschistischen Aktionsausschusses statt. Ich konnte erst kurz vor Schluß der Sitzung erscheinen und es wurde mir sofort das Wort erteilt. Als ich erklärte, daß die Rote Armee jetzt die normale Lebensmittelversorgung übernommen, und wir selbst alle Kräfte anstrengen müssen, applaudierte die ganze Versammlung. Zum Schluß sprach der sozialdemokratische Vorsitzende mir als Bürgermeister das volle Vertrauen der Versammlung aus, besonders aber im Namen seiner Partei. Am 28. Juni stand der gesamte Apparat der Lebensmittelversorgung. Alles war bis auf das kleinste vorbereitet. Der 1. Juli sollte nun nicht nur die normale Lebensmittelversorgung bringen, sondern war auch in anderer Hinsicht für den Wiederaufbau der Stadt Stettin wichtig Vorgesehen war ab 1. Juli folgendes: 1. Die Geldwirtschaft sollte in Kraft treten, 2. Licht und Wasser für ganz Stettin, 3. Die erste Straßenbahnlinie, die durch die ganze Stadt führt, sollte eröffnet werden, 4. Eröffnung von 16 Schulen mit ausgesiedelten Lehrkräften, 5. Eröffnung zweier Cafés mit Musik und einiger Bierrestaurants. Der Rückschlag: Am 28. Juni wurde mir vom Stadtkommandanten die Eröffnung gemacht, daß ein neuer Befehl aus Berlin gekommen sei, daß alle Maßnahmen der letzten Tage, vor allem in der Ernährungsfrage, annulliert worden seien. Gründe seien ihm, dem Stadtkommandanten, nicht bekannt. Am Tage darauf wurde mir offiziell mitgeteilt, daß Stettin den Polen übergeben würde, und ich sollte eine Liste der wichtigsten antifaschistischen Funktionäre einreichen, die mit ihren Familien Stettin zu verlassen haben. Als ich die Stadtkommandantur verließ, kratzten bereits Rotarmisten in allen Stadtteilen die Plakate über die Lebensmittelversorgung wieder ab. Ich berief sofort eine Funktionärsversammlung der Partei ein, und darauf eine Sitzung des Stadtrates. Aufgrund meiner Mitteilungen herrschte tiefste Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit, besonders über den allen unverständlichen Beschluß, daß die Stadt Stettin vollständig in polnische Hände übergehen sollte. Von der Partei wie auch vom Stadtrat wurde ich beauftragt, sofort mit allen maßgeblichen Instanzen (Landesleitung und Zentralkomitee) die Stettiner Frage zu besprechen. Besonders schwierig erschien allen Genossen die Frage der Evakuierung der Antifaschisten. Die Stadtkommandantur erteilte die Genehmigung zu meiner Reise. Die Besprechungen, die ich in Waren und Berlin durchführte, konnten an der Sachlage selbst nichts ändern und ich bekam den Auftrag, die Herausnahme der antifaschistischen Funktionäre in die Wege zu leiten. Auf einer erneuten Besprechung mit dem Stadtkommandanten wurde ich verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß sämtliche Stadträte und Dezernenten bis zur Übergabe an die Polen auf ihren Posten bleiben sollten. Die Übergabe an die Polen: Am 5. Juli fand im Saal der Stadtkommandantur unter der Leitung des Stadtkommandanten eine Versammlung statt, an der die 40 führenden Leute der deutschen Stadtverwaltung teilnahmen und ebensoviele Polen. Der Stadtkommandant verlas den Befehl des Marschall Shukows und übergab die Stadt dem polnischen Stadtpräsidenten. Derselbe dankte dem Stadtkommandanten und erklärte uns, daß am morgigen Tage sämtliche Abteilungen durch seine Leute besetzt würden, bis zu ihrer Einarbeitung müßten die Deutschen jedoch noch bleiben. Am Morgen des 6. Juli wurde an allen Gebäuden der Stadtverwaltung die polnische Flagge gehißt und in allen Abteilungen erschienen Beauftragte der polnischen Verwaltung. Ich selbst hatte noch eine Unterredung mit dem polnischen Stadtpräsidenten über folgende Fragen:
Die Übergabe der Geschäfte an die Polen erfolgte in einzelnen Abteilungen nicht ganz reibungslos. Dem Leiter des Arbeitsamtes wurde erklärt, es sei ja alles in Ordnung und er könne sofort nach Hause gehen. Der Stadtrat für Produktion wurde mehrere Stunden in Haft gesetzt, weil er angeblich eine Liste von 50 Faschisten nicht ausliefern wollte. Die Stadtstempel und einige andere Materialien wurden zum Teil gewaltsam in den einzelnen Abteilungen abkassiert. Es zeigte sich, daß die Polen in den unteren Organen der Stadtverwaltung bereits seit einiger Zeit bezahlte Spitzel beschäftigt hatten. Die Polen selbst erklärten vielfach, daß sie mit Politik nichts zu tun hätten und nur Beamte seien. Gleichzeitig machten sie jedoch vielfach versteckte Drohungen gegen die Sowjetunion. Evakuierung der Genossen und Schlußfolgerung: Die Tatsache, daß Stettin polnisch werden soll, verbreitete sich sehr schnell und die Erregung darüber war sehr groß. Sie wuchs, als die ersten Fahrzeuge mit der Habe unserer Genossen Stettin verließen. Für die Partei entstand dadurch eine sehr schwierige und unangenehme Situation, da Stimmen laut wurden, zuerst sind die Faschisten weggelaufen und jetzt machen die Kommunisten dasselbe. Viermal wurde ich beim Stadtkommandanten vorstellig, um die Erlaubnis zu einer öffentlichen Versammlung erhalten zu können, damit die Bevölkerung aufgeklärt werden kann. Ebenfalls wurde uns verweigert, an die Bevölkerung einen Aufruf herauszugeben. Wir hielten darauf eine Mitgliederversammlung der Partei ab und traten dann auf der Straße zu den erregt diskutierenden Menschen, um auf sie beruhigend einzuwirken. Ich selbst sprach dann noch in einer Mitgliederversammlung der SPD. Etwa 60 antifaschistische Familien brachten wir unter großen Schwierigkeiten in einem leerstehenden Gut, 16 km von der Stadt Stettin entfernt, unter (Lebehn). Die Spitzenfunktionäre, die für anderweitigen Einsatz vorgesehen waren, brachten wir nach Brunn, etwa 6 km von der Stadt entfernt. Am 9. Juli hatten alle dafür vorgesehenen Funktionäre mit ihren Familien die Stadt verlassen. Wir hatten vom Stadtkommandanten besondere Ausreisebescheinigungen erhalten, die von den Polen respektiert wurden. Ich hielt eine letzte Parteisitzung mit den zurückgebliebenen Genossen ab (etwa 60), und wir bildeten eine neue Parteileitung. Am 10. Juli verließ ich als letzter der Stadtverwaltung Stettin. Ich ging an diesem Tage noch zu allen Ämtern und Büros der Stadt, um mich zu verabschieden. Überall machte ich dieselbe Wahrnehmung, daß die Faschisten, die von uns fast restlos ausgemerzt waren, in vielen Fällen leitende Stellungen erhalten hatten und sich in ganz widerlicher Weise den Polen anbiederten. Die übrigen Angestellten jedoch bedauerten ausnahmslos unser Weggehen und stets wurde mir gesagt, daß wir wieder sofort zur Stelle sein müßten, wenn die Polen Stettin wieder verlassen. In der Bevölkerung selbst herrschte über den Gang der Ereignisse tiefste Niedergeschlagenheit, und nur die Tatsache, daß die ganze Umgebung mit Flüchtlingen aus Hinterpommern angefüllt war, verhinderte eine Massenflucht der Stettiner Bevölkerung. Hundertmal lieber eine Besetzung durch die Rote Armee als Polenherrschaft, das war die Stimmung der Bevölkerung in diesen Tagen. Die Stettiner Parteiorganisation trägt für alle Ereignisse in diesen Tagen die volle Verantwortung. Sie brauchte nicht erst neu gegründet zu werden, sondern sie war während der ganzen faschistischen Periode da, und stellte mit dem Einzug der Roten Armee ihre Arbeit nur um. Durch die politische Stärke und Initiative unserer Partei war die SPD vollkommen in den Hintergrund gedrängt und in sich gespalten und zersplittert, obwohl sie früher in Stettin der ausschlaggebende Faktor war. Führende Mitglieder der SPD kamen zu mir und frugen, ob es überhaupt noch Zweck hätte, daß sie ihren eigenen "Laden" aufmachen sollten. Die grundlegendsten Mängel in unserer Arbeit waren folgende:
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