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Deutsche Soldaten
sammeln die Leichen der von der Roten Armee bei Nemmersdorf
ermordeten Zivilisten Foto: Bundesarchiv/Wikimedia |
Nemmersdorf
Zeitsprung zurück in die Barbarei
von
Martin Zühlke
Ihre im Juni 1944 gestartete Großoffensive
brachte die Rote Armee bis Anfang September dicht vor die
Reichsgrenze in Ostpreußen. Der geplante weitere Vorstoß Richtung Posen
scheiterte am reorganisierten Widerstand des deutschen Ostheeres, den die
ausgebluteten sowjetischen Verbände nicht brechen konnten.
Die russische Kraft reichte allerdings zu zwei
Offensiven gegen Ostpreußen. Mit 19 Schützendivisionen stieß die 3.
Belorussische Front aus Litauen am 5. Oktober gegen
Memel vor. Zwei Tage später
war die östlichste deutsche Hafenstadt eingeschlossen, konnte jedoch als
„Festung“ gehalten werden. Ein Großteil des Memellandes ging hingegen verloren.
Am 9. fiel Heydekrug, am 10. Oktober Prökuls und Ruß. Die Rotarmisten gerieten
dabei mitten hinein in die flüchtende Bevölkerung. Bei dieser ersten Begegnung
mit deutschen Zivilisten passierten bereits schwere Übergriffe, Plünderungen,
Vergewaltigungen, Erschießungen.
Die zweite Offensive, die am 16. Oktober zwischen
Schirwindt und der Rominter Heide begann, sollte zeigen, daß es sich in der
Memelniederung nicht um vereinzelte Disziplinlosigkeiten gehandelt hatte. Denn
in den Ortschaften des südlichen Landkreises Gumbinnen verfuhren die
Sowjettruppen der 11. Gardearmee nach dem gleichen Muster.
Der heftigste Gewaltexzeß erfolgte am 21. Oktober 1944 in der 600-Seelen-Gemeinde Nemmersdorf.
Dem Gemetzel fielen 19 Einwohner zum Opfer.
Blutspur der Roten Armee
Hinzu kamen mindestens zehn weitere Morde an
Flüchtlingen, die es mit ihren Trecks dorthin verschlagen hatte. Als die
Soldaten der 5. Panzerdivison und der Fallschirm-Panzerdivision „Hermann Göring“
Nemmersdorf und Umgebung am 23. Oktober befreiten, stellten sie fest, daß in den
Nachbardörfern wenigstens 50 weitere Menschen die kurzeitige Besetzung ihrer
Heimat mit dem Leben bezahlt hatten.
Insgesamt forderte die sowjetische Kriegsfurie
bei diesem ersten tieferen Einbruch ins Reichsgebiet also kaum hundert tote
Zivilisten. Angesichts der etwa 3.500 Königsberger, die allein Ende August 1944
bei zwei Nachtangriffen der Royal Air Force umkamen, scheint das keine
bemerkenswerte Verlustbilanz zu sein. Trotzdem rangierte
Nemmersdorf im
kollektiven Gedächtnis der vertriebenen Ostpreußen jahrzehntelang vor dem im
britischen Feuersturm untergegangenen Königsberg, obwohl dessen Kriegsschicksal
mit dem im Februar 1945 von Rotarmisten verübten Massaker im Vorort Metgethen
sowie den Massenverbrechen in der am 9. April 1945 eroberten Provinzhauptstadt
noch Steigerungsformen der Bestialität ausweist.
Wie erklärt sich daher die außerordentliche
Prägnanz und Präsenz ausgerechnet der im Gesamtgeschehen marginal wirkenden
Ereignisse in Nemmersdorf? Vermutlich, so simpel das klingen mag, durch die
Macht der Bilder. Die verstümmelten Leichen in Metgethen sind nicht fotografiert
worden, ebensowenig wie Millionen ermordete, geschändete, mißhandelte,
ausgeplünderte, deportierte Ost- und Mitteldeutsche, die nach
Nemmersdorf die
breite Blutspur der Roten Armee auf ihrem Marsch Richtung Berlin markieren.
Niemand vergißt diese Bilder
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Aufnahme einer Propagandakompanie:
Zwei bei dem Massaker erschossene Kinder.
Foto: picture alliance/ZB |
Nur in den wenigsten Fällen konnten sich zudem
offizielle deutsche Stellen aus Armee oder Verwaltung ein gut dokumentiertes
Bild über die Tragweite sowjetischer Kriegsverbrechen machen, da eine Befreiung
durch militärische Gegenoffensiven, wie im Gebiet zwischen
Gumbinnen und
Goldap
im Herbst 1944, nach der
sowjetischen Großoffensive vom Januar 1945 gegen
Ostdeutschland in den seltensten Fällen gelingen sollte.
Die Nemmersdorfer Opfer hingegen wurden
unmittelbar nach dem Gegenschlag der Wehrmacht penibel dokumentiert. Niemand,
der die in vielen zeithistorischen Büchern zu Flucht und Vertreibung
reproduzierten Fotos von den auf einem Dorfacker liegenden toten Kleinkindern
und offensichtlich vergewaltigten Frauen gesehen hat, vergißt diese Bilder. Die
Toten sind überdies „inszeniert“ und damit plastischer als unzählige gleich
schwerwiegender Kriegsverbrechen ins öffentliche Bewußtsein gehoben worden.
Joseph Goebbels, Reichsminister für
Volksaufklärung und Propaganda, sorgte dafür, indem er Nemmersorf in den
Mittelpunkt einer Pressekampagne stellte, die angesichts derart schauderhafter
„bolschewistischer Greuel“ den Widerstandswillen von Front und Heimat festigen
sollte.
Goebbels’ Deutung setzte sich im Kalten
Krieg fort
Tatsächlich sorgten insbesondere östlich der
Weichsel die Berichte über Nemmersdorf für Unruhe bei der Zivilbevölkerung, da
die Erfahrungen mit von russischen Truppen begangenen Plünderungen, Tötungen und
Verschleppungen aus dem Ersten Weltkrieg noch wach waren und die Glaubwürdigkeit
der Propaganda eher bestärkten als sie in Frage stellten – erst recht nach mehr
als drei Jahren unerbittlich geführtem Weltanschauungskrieg.
Nach 1945 fand Goebbels’ Deutung, wonach sich in
Nemmersdorf jene die abendländische Kultur mit Vernichtung bedrohende Gegenwelt
des bolschewistischen „Untermenschen“ einmal mehr offenbart habe, fast
unzensiert Aufnahme im Propaganda-Repertoire des Kalten Krieges, so daß
Nemmersdorf sich als Mosaiksteinchen nahtlos einfügte in die Darstellung vom
Gulag-„Reich des Bösen“. Erlittenes von Hunderttausenden Ostdeutschen, die
während Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimat die Schrecken der Roten Armee
hautnah erleben mußten, sorgte auch jetzt dafür, daß sich die Wahrhaftigkeit
dieser Interpretation eher bestätigt als widerlegt fand.
Nach dem
Mauerfall, dem Untergang der UdSSR und
dem geschichtspolitischen „Wandel durch Annäherung“, der die Berliner Republik
auf antifaschistischen SED-Kurs brachte, stand auch die in der „Nazipropaganda“
wurzelnde „Legende“ Nemmersdorf zur Disposition. Auf diesem Felde reüssierte
Bernhard Fisch, 1926 geboren im Kreis Ortelsburg, in der DDR Russisch-Dozent,
seit 1990 PDS-naher Protagonist „linker Vertriebenenpolitik“.
„Rache“ für „Hitlers Vernichtungskrieg“
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Ein Wehrmachtsoldat untersucht die
Leiche eines getöteten Flüchlings bei Nemmersdorf.
Foto: picture allaince/akg-images |
Seine verdienstvolle, quellenkritische Studie
über Nemmersdorf („Was in Ostpreußen wirklich geschah“, Berlin 1997) konnte eine
Reihe tendenziöser NS-Übertreibungen und zahlreiche, auf Hörensagen beruhende
Schilderungen korrigieren sowie die Unzuverlässigkeit des am häufigsten
zitierten Augenzeugen, des Königsberger Volkssturmmanns Karl Potrek, nachweisen,
auf den der Bericht von angeblichen „Kreuzigungen nackter Frauen an
Scheunentüren“ zurückgeht.
Ein solches Bemühen um historische Wahrheit ist
sicher anerkennenswerter als die Vermittlung nie quellenkritisch hinterfragter
Versionen, wie sie im Ostpreußenblatt oder in der Literatur von Jürgen Thorwald
üblich waren, oder als jene penetrante Kolportage von Halbwahrheiten, wie sie
zuletzt Heinz Schöns mit Nemmersdorfer Schreckensbildern illustrierte
„Königsberger Schicksalsjahre“ (Kiel 2012) boten.
Leider neigte Fisch seinerseits zu plumper
Apologie der Roten Armee, die er nicht als „Bande von Mördern und
Vergewaltigern“ angeklagt sehen will, da man deren Verbrechen als „Rache“ für
„Hitlers Vernichtungskrieg“ verstehen müsse und die Deutschen ohnehin die
„Hauptverantwortung“ für Leid und Untergang Ostpreußens trügen.
Rote Armee erkannte Völkerrecht nicht an
Kein Wort darüber, daß Gewalt gegen Wehrlose
übliche Praxis dieser im Bürgerkrieg geborenen, Lenins Devise „Wer wen?“
gehorchenden Armee war, die das Völkerrecht des „Klassenfeindes“, einschließlich
der Haager Landkriegsordnung, nicht anerkannte. Mit der Folge, daß
Sowjetsoldaten unmittelbar nach dem 22. Juni 1941 begannen, wie der
Völkerrechtler Alfred de Zayas später belegte, deutsche Kriegsgefangene in
viehischer Weise abzuschlachten, zu foltern oder kurzerhand zu erschießen.
Immerhin rang sich der auch wegen seiner
oral-history-lastigen Arbeit kritisierte Fisch dann 2006 das Zugeständnis ab,
ungeachtet aller propagandistischen „Inszenierungen“ und der „Mythisierungen“ in
der Nachkriegszeit sei das Verhalten der Roten Armee mit „internationalem Recht“
nicht vereinbar gewesen. Wo ihre Soldaten auftauchten, warfen sie die
Staatsbürger des Deutschen Reiches rechtlich um 2.000 Jahre zurück in Barbarei
und Sklaverei. Eine Einsicht, die rasch wieder verlorengegangen ist, wie heute
ein
Blick in den Nemmersdorf-Artikel der notorisch geschichtsklitternden
Wikipedia-Enzyklopädie beweist.
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