Zeitgeist als Sprachpolizei:
Die Macht des Wortes
Von Thorsten Hinz

Für das Wort „entartet“ gibt es zahlreiche Synonyme: abnorm zum Beispiel, atypisch, heruntergewirtschaftet, morbid oder regelwidrig. Doch „entartet“ bringt die erwünschte  Ansage schneller auf den Punkt. Das stellt für einen Versammlungsredner, der aus der Position des Herausforderers und Außenseiters spricht, eine Verführung dar. Nur ist das Wort kontaminiert, seitdem die Nationalsozialisten gegen die „entartete Kunst“ zu Felde zogen. Deshalb war es von AfD-Sprecher Bernd Lucke ungeschickt, es überhaupt in den Mund zu nehmen. Er hat damit den Gegnern die Gelegenheit geboten, seine Partei zu skandalisieren.

Trotz Kontamination war die Skandalisierung nicht zwingend. Sie ergab sich erst aus einem Vernichtungswillen der Gegner in Politik und Medien. Das Grimmsche Wörterbuch vermerkt nämlich unter „entarten“ das lateinische „degenerare“: ausarten, aus der Art schlagen. Und das „Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (Berlin Ost 1984) erläutert: „von einer natürlichen oder gezüchteten Form in negativer Weise abweichen“. Das heißt: Auch für mißbrauchte Worte kann es ein Leben nach Hitler geben.

Nicht einmal im Wahlkampf über Schicksalsfragen diskutieren

In diesem Sinn hatte Finanzminister Wolfgang Schäuble mit Blick auf den Mauerbau von der „Entartung“ des SED-Staates gesprochen. Und Altkanzler Helmut Schmidt hatte davor gewarnt, daß die europäischen Gesellschaften bei anhaltend ungebremster Zuwanderung „entarten“ würden. Eine vergleichbare Abweichung bzw. „Entartung“ liegt vor, wenn in einer formalen Demokratie die grundsätzlichen, die staatliche Existenz berührenden Fragen beschwiegen und nicht einmal im Wahlkampf mehr diskutiert werden.

Die europäische Gemeinschaftswährung, die heterogene Volkswirtschaften zusammenspannt, ist zweifellos eine Lebensfrage. Das gleiche gilt für die Zuwanderung aus fremden Kulturkreisen. Sie führt zur Entstehung eines „sozialen Bodensatzes (...), der lebenslang in unseren Sozialsystemen verharrt“. Das ist eine weitere Aussage Luckes, die empirisch unwiderlegbar ist – und eben deswegen in NS-Nähe gerückt wurde.

Es geht allein um die moralische Suggestion

Diese neuesten Beispiele zeigen: So bald eine Diskussion geeignet ist, die Grundzüge der praktizierten Politik in Frage zu stellen und ad absurdum zu führen, wird sie vom sachpolitischen Haupt- auf ein sprachideologisches Nebengleis gesetzt und in Extremismus- und Nazinähe verfrachtet. Dazu dient neben der NS-fixierten Sprachgeschichte ein ganzes System aus emotional angereicherten Begriffen, das alle großen Medien tagtäglich verbreiten. Das System basiert auf einem simplen Gut-Böse-Schema.

Wer Euro-, EU-Kritik und Islamkritik übt, wer die ungesteuerte Zuwanderung, die Ausländerkriminalität und die finanzielle Erpressung durch den Staat thematisiert, wird als deutschtümelnd, europa- und ausländerfeindlich, islamophob, rechts und populistisch diskreditiert und lächerlich gemacht. Umgekehrt wird die aktuelle Politik mit positiven Begriffen wie Vielfalt, Bereicherung, Solidarität und Einsatz für Benachteiligte verbunden. Es geht allein um die moralische Suggestion. Sachargumente stören nicht nur, es geht ausdrücklich darum, ihren Austausch, ja ihre Benennung zu blockieren. So soll die aktuelle Politik der Analyse, Kritik und Kontrolle entzogen werden. Das Fernziel ist die Aufhebung der europäischen Nationalstaaten und die Verwandlung Deutschland und Europas in den Standort einer transnationalen – bunten – Menschengemeinschaft.

Eine permanente Abrichtung durch Schulen, Universitäten und Medien

Woher kommt die disziplinierende Wirkung eines Vokabulars, das den authentischen Erfahrungen so vieler widerspricht und ihren gesunden Menschenverstand beleidigt? Die verkehrte Sprache steht nicht für sich selbst, sondern sie exekutiert politische Macht. Über Macht verfügt, wer seine Sprache an die Öffentlichkeit tragen und durch sie Verbindlichkeit in der Gesellschaft stiften kann. Es kommt gar nicht darauf an, daß die Adressaten den verbreiteten Unfug tatsächlich glauben. Wichtiger ist zunächst nur, daß sie instinktiv erkennen und verinnerlichen, was die Autoritäten von ihnen erwarten, was sie öffentlich äußern dürfen oder worüber sie schweigen müssen. Die permanente Abrichtung durch Schulen, Universitäten und Medien führt schließlich zu Pawlowschen Reflexen, die zuerst das öffentliche Verhalten, dann die Sprache und schließlich auch das Denken bestimmen. Für die schweren Fälle gibt es schließlich die in Volksverhetzungsparagraphen gegossene juristische Drohung.

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, heißt es bei Ludwig Wittgenstein. Was ich nicht in Worte fassen kann, das muß ich hinnehmen und erleiden. Die Beschränkung der Sprache durch staatliche und überstaatliche Autoritäten bedeutet Entmündigung und Fremdbestimmung.

Journalisten sind die sprachpolitischen Kettenhunde

Während das Staatsvolk, der Demos, sich in eine nach dem Pawlow-Prinzip reagierende Schafherde verwandelt, stellen Journalisten die sprachpolitischen Kettenhunde: Wachsam, bissig, aber auch ängstlich und gerade deshalb so aggressiv. Die Jörges, Plasbergs, Prantls oder Wills sind, selbst wenn ihre persönliche Einstellung mit den gemachten Vorgaben konform geht, nur scheinbare Herren (und Damen) des Spiels. Die Abhängigkeit ihres Berufsstandes zeigt sich etwa an der schlagartigen, flächendeckenden Durchsetzung des sperrigen Begriffs „Migrationshintergrund“, der die kulturelle und nationale Konkretheit auslöscht und auf einen rein technischen Begriff reduziert.

Auf derartige Wortungetüme kommt niemand von selbst, und niemand benutzt sie freiwillig. Sie sind vielmehr Ausdruck einer globalistischen Ideologie, deren Standards auf übernationalen Ebenen festgelegt werden. Damit Kritik an den negativen Abweichungen – vulgo: Entartungen – der politischen Sprache und Machtausübung sinnvoll ist, muß sie diese Ebenen stärker als bisher thematisieren.

Quelle:
JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co., Politik, 12.10.2013,
www.jungefreiheit.de/Single-News-Display-mit-Komm.154+M5aa77793b02.0.html