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"Unsere Bürokraten hassten Königsberg"

Sehnsucht nach Geschichte: Kaliningrader wollen deutsches Erbe bewahren und pflegen
Von Birgit Johannsmeier

Der Kreml lehnt eine Rückbenennung von Kaliningrad in Königsberg ab. Doch eine Gruppe von Bürgern kämpft um den alten Namen. Andere setzen sich dafür ein, die Überreste der deutschen Architektur zu erhalten: Kopfsteinpflaster, Straßenbahnschienen und den Zoo.

Aufgeregtes Geschnatter im Zoo von Kaliningrad, dem einstigen Königsberg. Im kleinen Terrarium drängeln sich Eltern und Kinder vor großen Glasscheiben. Jeder will einmal die gelbe Königsboa und die sechs Meter lange Tigerpython ganz aus der Nähe sehen. Denn noch ist es ein Geheimnis, welche der beiden den Publikumspreis im chinesischen Jahr der Schlange erhalten wird.

Mädchen: "Meine Mutter hat unseren Stimmzettel ausgefüllt. Ich habe für die Tigerpython Schuscha abgestimmt. Sie ist sehr groß und schön. Ich komme zweimal im Monat her, um sie mir anzuschauen."

Während die Familien weiter rätseln, welche Schlange wohl ausgezeichnet wird, freut sich Swetlana Sokolowa über die Besucherströme. Der Eintritt ist frei an diesem Tag, was tausende Kaliningrader in den Zoo gelockt hat. Die 35-jährige Biologin hat erst vor kurzem die Leitung im Zoo übernommen. Ihre Augen beginnen zu leuchten, wenn sie über ihren neuen Arbeitsplatz spricht. Swetlana Sokolowa will die Kaliningrader von der historischen Bedeutung des Zoos überzeugen. Als "Königsberger Tiergarten" wurde er im Jahre 1896 eröffnet. Noch heute stammen die meisten Volieren, Käfige und Tiergehege aus jener Gründerzeit. Die verschnörkelten Gitter sind längst verrostet, die Wege sind voller Schlaglöcher und viele Gehegemauern zerbrochen.

Swetlana Sokolowa: "Seit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion ist unser Zoo völlig heruntergekommen. Es wurde schon über seinen Abriss nachgedacht. Dabei ist er neben Moskau und St. Petersburg der älteste Tiergarten in Russland. Ich möchte unser deutsches Erbe pflegen und gleichzeitig einen modernen europäischen Tiergarten schaffen. Deshalb tue ich alles, um Bürger und Politik für unseren Zoo zu gewinnen."

Regelmäßig trifft sich Swetlana mit Gleichgesinnten: Der "Klub", wie sie sich nennen, kommt im Versammlungsraum einer Kneipe zusammen. Denn nicht nur ihr historischer Tiergarten, auch der Königin-Luise-Park und das alte Kopfsteinpflaster aus der deutschen Zeit sind von der Vernichtung bedroht. Jetzt machen sich aber zum ersten Mal engagierte Bürger in Kaliningrad für die Überreste deutscher Geschichte stark. Wer nicht zum Klubabend kommt, ist über Facebook aktiv.

Das Wort hat die Soziologin Inna Vishemirskaja, eine resolute Frau mit kurzem lockigen Haar. Als die Stadtverwaltung von Kaliningrad vor einem Jahr das deutsche Kopfsteinpflaster asphaltieren wollte, hat Inna den Stein ins Rollen gebracht und erste Protestaktionen organisiert:

"Wir haben dann einen offenen Brief in die Zeitung gesetzt: Wenn die Stadtverwaltung das alte Kopfsteinpflaster entfernen will, muss sie zuerst mit uns Kaliningradern reden. Daraufhin kamen Journalisten zu uns, schrieben Artikel, brachten uns im Radio und drehten fürs Fernsehen. Die ganze Stadt hat teilgenommen, sogar auf der Internetseite unserer Stadtverwaltung wurde viel von uns veröffentlicht. Wir können mit unseren engagierten Leuten Berge versetzen."

Inna hat selbst schon als kleines Mädchen auf dem Kopfsteinpflaster gespielt. In der Uliza Krasnaja, der deutschen Schlotterstraße, die mitten im einstigen Tiergartenviertel liegt. An jedem Feierabend dreht sie mit ihrem Mann Dmitry eine Runde vor der eigenen Haustür. Beide genießen jenen Geist der vergangenen deutschen Zeit. Innas Mann Dmitry ist von Beruf Fotograf und hält jedes noch so verwitterte Detail mit seiner Kamera fest. Denn anders als im zerstörten Rest der Stadt reihen sich hier zahlreiche intakte Straßenzüge aneinander: Vierstöckige Wohnhäuser mit kleinen Vorgärten oder großen Balkonen, hier und da mit Erkern oder Stuck verziert.

Inna: "Die alten Häuser, die alten Bäume und vor allem das Kopfsteinpflaster sind die Seele unseres Wohnviertels. Früher waren sogar die Bürgersteige mit Steinen gepflastert. Das waren kleine Rhomben, wie ich sie in Deutschland gesehen habe. Als kleines Mädchen habe ich dort kleine Kreidekästchen gemalt und bin darin gehüpft."

Dmitry: "Diese Straße ist der wichtigste Ort in meinem Leben. Hier habe ich meine Kindheit verbracht, hier habe ich Inna getroffen, hier fühle ich mich wohl und bin glücklich. Ohne Kopfsteinpflaster können wir uns weder Kaliningrad noch Königsberg vorstellen. Deshalb müssen wir es schützen."


Mit Erfolg! Der Konflikt mit der Stadtverwaltung von Kaliningrad hat sich in einen Dialog verwandelt, und die Asphaltierung wurde tatsächlich gestoppt, sagt Inna nicht ohne Stolz:

"Wir Aktivisten sind hier zusammen mit dem Oberbürgermeister durch die Straßen gelaufen. Er hat unsere Kritik verstanden und unseren Forderungen zugestimmt. Die Stadtverwaltung nimmt uns endlich ernst, das ist fast mehr, als wir erwartet haben."

Das einstige Königsberg wurde 1944 durch zwei britische Luftangriffe nahezu völlig zerstört. Nach Kriegsende fiel die ostpreußische Metropole des Deutschen Reichs in sowjetische Hände. Während die deutschen Bewohner vor der anrückenden Roten Armee gen Westen flohen, wurde das neue "Kaliningrad" mit Menschen aus allen Sowjetrepubliken besiedelt.

Denn dieser neue Vorposten Russlands liegt strategisch günstig und wurde als Standort der militärischen Ostseeflotte ausgewählt. Deshalb galt es, möglichst schnell Wohnraum zu schaffen. Dafür fehlten Geld und Zeit. Vor allem aber fehlte der Wille, die Architektur des deutschen Kriegsgegners zu restaurieren. Die Stadt besteht heute überwiegend aus gesichtslosen sowjetischen Plattenbauten. Erst mit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion vor 22 Jahren begann auch in Russland und dem Gebiet Kaliningrad ein Umdenken.

Zurück zum Kaliningrader "Klub": Beflügelt vom ersten Zugeständnis haben sich die Aktivisten gleich auf das nächste Ziel gestürzt: Was wird aus dem Königin-Luise-Park? Allen voran der 30-jährige Dima Nadrishin. Der Elektriker war es leid, sich nur privat mit Frau und Freunden über die Alltagsprobleme im Bezirk Kaliningrad zu streiten. Zuerst hat er selbst einen Blog im Netz gestartet, später Innas Kopfsteinpflaster-Seite auf Facebook entdeckt.

Dima: "Endlich traf ich aktive Leute, die etwas verändern wollen. Und wir werden immer mehr. Die einen hängen an den alten deutschen Straßenbahnschienen, andere wollen das Königsberger Schloss wieder aufbauen, ich kämpfe für den Königin-Luise-Park. Aber das Kopfsteinpflaster hat uns zusammen gebracht. Mittlerweile nimmt uns die Stadtverwaltung sogar ernst. Wir sind nicht immer einer Meinung, versuchen aber, Kompromisse zu finden. Wir lieben die alte Architektur und wollen, dass es auch morgen noch in Kaliningrad das historische Erbe Königsbergs gibt."

Der Park der preußischen Königin Luise liegt neben dem Zoologischen Garten. Wie die Uliza Krasnaja befindet sich die Grünanlage direkt neben dem historischen Kopfsteinpflaster-Viertel, das im Krieg nicht zerstört worden ist. Auch Dima ist hier groß geworden und würde gerne mit seiner kleinen Tochter im Park spazieren gehen. Aber heute sind Wiesen und Wege zugewachsen und werden als Müllkippe missbraucht, schimpft der Aktivist. Im einstigen Hufgrabenbach schwimmen alte Autoreifen und leere Bierflaschen. Als ein Investor den Bach durch ein Rohr legen wollte, um ein zwölfstöckiges Wohnhaus zu errichten, liefen Dima und die Kopfsteinpflastergruppe Sturm.

Dima: "Wir lehnen einen Neubau an diesem historischen Ort ab, haben Fotos und Aufrufe ins Netz gestellt. Mit unserem lauten Protest konnten wir das Projekt tatsächlich stoppen. Der Oberbürgermeister hat sich den Park mit eigenen Augen angesehen und versprochen, dass Bach und Wiesen bleiben. Jetzt sollte das Gelände allerdings noch verschönert werden."

Diese neue Bewegung für deutsche Spuren im einstigen Königsberg hat mittlerweile sogar eine alte Debatte neu entfacht, die seit der Auflösung der Sowjetunion aufgekommen ist: Soll Kaliningrad wieder seinen alten Namen Königsberg erhalten?

Während die Kinder im Zoo Papageien, Nilpferde oder Elefanten besuchen, sind ihre Eltern oft in Gespräche vertieft.

Frau 1: "Nein, unsere Stadt soll Kaliningrad bleiben. Hier leben doch nur Russen, für uns ist es wichtig, dass es ein russischer Name ist."
Frau 2: "Ich denke, dass unsere Stadt unbedingt in Königsberg umgetauft werden muss. Sie war ein reiches Zentrum Ostpreußens. Die Nazis waren nur kurze Zeit hier. Und unser Namensgeber Kalinin, er war grausam wie Stalin. Der Name Königsberg hat eine viel bessere Bedeutung."
Mann: "Ich bin in Kaliningrad geboren, hier möchte ich auch sterben. Ja, Königsberg ist auch ein schöner Name, aber er ist Geschichte. Er hat nichts mit unserer russischen Gegenwart zu tun. Deshalb verstehe ich das Ziel einer Umbenennung überhaupt nicht."

Soll Kaliningrad wieder Königsberg heißen? Das ist ein Thema, das auch die Aktivisten im "Klub" umtreibt. Diesmal ist es der Werbedesigner Max Popow, der einen Antrag auf Umbenennung unterschrieben hat. Dem 32-Jährigen lässt die wechselvolle Geschichte seiner Geburtsstadt keine Ruhe. Was zeichnet einen Ort aus, dessen einst deutsche Bevölkerung und Architektur durch russische Einwohner und Stadtplanung ersetzt worden sind, wollte Max Popow wissen. 13 Jahre lang hat er in russischen und deutschen Archiven nach Fotografien gesucht. Damit wollte er auch beweisen, dass sogar noch in den 70er-Jahren historische Gebäude abgerissen wurden. Laut sowjetischer Propaganda waren sie im Krieg zerstört worden. Der letzte Turm vom Königsberger Schloss wurde 1967 gesprengt.

Max Popow: "Dieser frevelhafte Umgang mit kulturellem Erbe ist ein Resultat sowjetischer Propaganda. Unsere Bürokraten hassten Königsberg. Bis 1991 durften wir ja nicht mal über die deutsche Geschichte sprechen. Wir sollten Kaliningrad umbenennen. Als Königsberg wären wir konkurrenzfähiger auf dem europäischen Markt, und das Selbstbewusstsein unserer Einwohner würde gestärkt."

Es war Ende Dezember und klirrend kalt: Früh am Morgen machte sich Max Popow auf, den Antrag auf Umbenennung zu unterschreiben. Am Fuße der "Mutter Russlands", einer zehn Meter hohen Frauenfigur, die mitten im Stadtzentrum von Kaliningrad steht. An einem kleinen Tisch stand der Blogger Rustam Vasiliev und versuchte, die Passanten zur Teilnahme zu überreden. Aus Kaliningrad solle endlich wieder Königsberg werden.

Rustam Vasiliev: "Ich möchte Königsberg zurück nach Europa bringen. Der Name Königsberg ist nicht nur mit Ostpreußen, mit Deutschland, sondern auch mit Russland verbunden. Wir Russen haben uns wie die Königsberger vor genau 200 Jahren von Napoleon befreit. Für mich geht es um europäische Kultur und Identität, deshalb sollten wir an dem Namen Königsberg festhalten."

Allerdings sind Rustam Vasiliev und Max Popow zwei von nur 400 Leuten, die für die Umbenennung unterschrieben haben. Das sei natürlich viel zu wenig, lacht der Abgeordnete Alexander Steputschev. Trotzdem hat er im Bezirksrat eigens eine Arbeitsgruppe gegründet, die alle 940.000 Bewohner des Kaliningrader Gebietes befragen soll. Zwar ist die Exklave räumlich durch Grenzen zu Polen und Litauen vom eigentlichen Mutterland getrennt. Trotzdem gelten auch hier die Gesetze Moskaus, sagt Alexander Steputschev. Und der Kreml lehnt den Namen "Königsberg" kategorisch ab:

"Wir sind Bürger Russlands und nicht Bewohner einer deutschen Stadt. Die Umbenennung Kaliningrads wäre der erste Schritt, um uns abzuspalten und Russland zu destabilisieren. Nach Kaliningrad geben wir dann der nächsten ostpreußischen Stadt im Kaliningrader Gebiet ihren deutschen Namen zurück. Alles, was wir nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben, würde vernichtet. Wir lehnen diesen Separatismus ab."

So schnell werden sich die Aktivisten in Kaliningrad allerdings nicht geschlagen geben. Immerhin findet 2018 die Fußball-Weltmeisterschaft auch in Kaliningrad statt. Wenn die Bezirksregierung eine Umbenennung tatsächlich ablehnen wird, wollen sie vor dem Sitz des Weltfußballverbands FIFA in der Schweiz demonstrieren.

Sogar die Zoodirektorin Swetlana Sokolowa blickt voller Erwartung der Fußball-WM entgegen und hofft auf die Schlachtenbummler. Vor allem aus Deutschland. Deshalb müsse der Zoo komplett umgebaut werden, sagt Sokolowa. Die Direktorin steht in engem Dialog mit Zoologischen Gärten in ganz Europa und hofft auf gezielte Beratung. Denn noch ist nicht entschieden, ob man die verzierten Volieren oder historischen Bruchsteingehege einfach vernichten sollte, weil sie nicht mehr einer zeitgemäßen Tierhaltung entsprechen. Swetlana Sokolowa hält vor dem Bärengraben an, wo sich gerade ein Braunbär in der Sonne wälzt:

"Dieser deutsche Bärenfelsen war damals ganz modern, heute ist er zu klein. Für den Bären wollen wir ein Gehege mit größerem Auslauf bauen, auf diesen Felsen soll eine japanische Meerkatze ziehen. Wir möchten unser deutsches Erbe pflegen und gleichzeitig ein moderner Tiergarten sein."

Bereits in diesem Sommer will die Direktorin überall im Zoo Schautafeln aufstellen, die Geschichten aus dem "Königsberger Tiergarten" erzählen. Allerdings fehlen ihr noch die 50 Millionen Euro, die Swetlana Sokolowa für die komplette Umgestaltung veranschlagt hat:

"Während der Weltmeisterschaft müssen wir unseren Gästen etwas bieten. Deshalb wird Moskau viele Millionen in Kaliningrad investieren. Und genau da kommt unser Zoo ins Spiel: Wir liegen mitten in der Stadt und sind bei Jung und Alt beliebt. Wenn wir den Zuschlag erhalten, werden wir schon in wenigen Jahren ein schöner europäischer Tiergarten sein."

Im Schlangenhaus wird endlich das Geheimnis gelüftet: Tatsächlich hat die 15-jährige Tigerpython Schuscha gewonnen. Mit einer kleinen Siegerurkunde wird sie zur schönsten Schlange im einstigen "Königsberger Tiergarten" gekürt.

Quelle:
Deutschlandradio Kultur, 30.04.2013,
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/weltzeit/2091944/

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