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Dokumente der Schande Man schreibt den 19. Januar 1946. In dem von sechs Hundertschaften Polizei umstellten Budaörs – einem Vorort von Budapest mit deutschem Ortsnamen Wudersch – werden „die Schwaben“ aus den Betten geholt. Nur das Allernötigste dürfen sie zusammenklauben, bevor sie zum Bahnhof getrieben werden. In bereitstehenden Viehwaggons verlassen 1.058 Bewohner die Ortschaft, am 30. Januar kommen sie in Aalen an. Ein zweiter Transport mit 1.054 Menschen erreicht am 1. Februar Göppingen. So geht es Schlag auf Schlag: Binnen fünf Wochen sehen sich 6.753 Ungarndeutsche aus Wudersch wie Vieh nach Württemberg und Baden verfrachtet. Und am 22. Juni sowie am 23. August 1947 gehen die beiden letzten Transporte aus der vor 1941 eigenständigen Gemeinde nach Hoyerswerda ab, in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Erst hernach ist Budaörs „frei von Schwaben“ („svábok“). Auf dieselbe Weise entleeren sich Dorf für Dorf, Komitat (Bezirk) für Komitat, in denen seit Generationen Deutsche leben. In der Volkszählung von 1941 hatten 477.057 Personen „deutsch“ als ihre Volks- oder Sprachzugehörigkeit angegeben, 136.847 Staatsbürger deutscher Nationalität verlassen ungarischen Quellen zufolge Ungarn bis zum 1. September, weitere 24.789 bis Dezember 1946. Auf Anordnung General Lucius D. Clays endet am 1. Dezember 1946 die „Aussiedlung“ (kitelepítés) – so der amtliche ungarische Sprachgebrauch – in den amerikanisch besetzten Teil Deutschlands. Zwischen Frühjahr 1947 und Sommer 1948 verbringt man daher noch einmal gut fünfzigtausend „Schwaben“ in die SBZ, von denen viele bald den Weg in die Westzonen wählen. Vertriebene, Kriegsflüchtlinge und Heimkehrer aus der Sowjetunion, wohin 64.000 zur Zwangsarbeit deportiert worden und von denen 16.000 zu Tode gekommen waren, machen insgesamt 225.000 vertriebene Ungarndeutsche aus, soweit sie in der Bundesrepublik amtlich registriert werden. Die Vertreibung selbst ist in der Verordnung Nr. 12.330 amtlich bekanntgemacht und im Staatsanzeiger (Magyar Közlöny) Nr. 211 vom 29. Dezember 1945 veröffentlicht worden: Aufgrund des Beschlusses der Regierung und der Alliierten Kontrollkommission für Ungarn (AKKU) vom 20. November 1945 über die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung Ungarns nach Deutschland wird verfügt: „Zur Umsiedlung sind jene ungarischen Staatsbürger verpflichtet, die sich anläßlich der letzten Volkszählung zur deutschen Nationalität oder Muttersprache bekannt haben, oder die ihren magyarisierten Namen wieder in einen deutsch klingenden umändern ließen, ferner diejenigen, die Mitglied des Volksbundes oder einer bewaffneten deutschen Formation (SS) waren.“ Die Anordnung beruft sich auf die Konferenz von Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945). Aus den AKKU-Sitzungsprotokollen geht indes hervor, daß die Vertreibung der Ungarndeutschen ursprünglich gar nicht vorgesehen war. Völlig unerwartet für den Vertreter der USA sowie jenen Großbritanniens wird das Thema am 16. Juni 1945 auf die Tagesordnung gesetzt: Sowjet-Marschall Kliment Woroschilow, Chef der AKKU, unterbreitet das Ersuchen der ungarischen Regierung um „Repatriierung der Schwaben“ in ein „von der Grenze des Landes weit entferntes Gebiet“. Daß die Vertreibung somit nicht, wie in Ungarn lange offiziell dargestellt, eine Folge der sie hernach gutheißenden Beschlüsse von Potsdam gewesen, sondern von der damaligen Regierung in die Wege geleitet worden ist, beweisen die Protokolle auch: Die vom späteren Staatspräsidenten Zoltán Tildy, einem reformierten Pfarrer, unterzeichnete Verordnung vom 29. Dezember 1945 mußte eigens umgeändert werden; und selbst Woroschilow gestand zu, er werde „auch in der für die ungarischen Zeitungen bestimmten Veröffentlichung klarmachen, daß die Deportation das Ergebnis eines von der ungarischen Regierung gestellten Antrags“ sei. Es sind auch nicht, wie zumeist behauptet, die Kommunisten (allein) gewesen, die die Schwaben kollektiv büßen lassen wollten. Alle der deutschen Minderheit geltenden Maßnahmen (Enteignung, Entrechtung, Vertreibung, Umsiedlung Verbleibender innerhalb Ungarns) sind zwischen 1945 und 1947 ergriffen worden, als in der Budapester Regierung überwiegend „nationale“ Parteien das Sagen haben: die Partei der Unabhängigen Kleinlandwirte, die am 4. November 1945 in der Wahl zur Nationalversammlung 57 Prozent der Stimmen erhalten hatte; die Sozialdemokraten (17,4), die Nationale Bauernpartei (6,9). Die Kommunisten stellten (bei knapp 17 Stimmenprozenten) lediglich vier der 16 Minister der ersten Nachkriegsregierung. Verschwiegen werden darf auch nicht, daß just mit Beginn der kommunistischen Alleinherrschaft im Lande (1948) nichtungarischen ethnischen Gemeinschaften erste Erleichterungen zuteil wurden. Und ausgerechnet der Stalinist Mátyás Rákosi hebt 1950 alle von Vorgängerregierungen gegen die verbliebenen Deutschen erlassenen Gesetze auf. Gleichwohl ist den aus Moskau zurückgekehrten führenden ungarischen Kommunisten der Gedanke kollektiver Bestrafung nicht fremd gewesen. Enthalten war er im Konzept für eine radikale Bodenreform, das Imre Nagy, seinerzeit Agrar-Referent der „Moskowiter“ (und nach der Niederschlagung des Aufstands von 1956 hingerichtet), vor Bildung der provisorischen Regierung in Debrecen 1944 ausgearbeitet hatte. Es sieht vor, „Vaterlandsverräter, Kriegsverbrecher, Mitglieder des deutschen Volksbunds und Personen, die in der Wehrmacht gedient haben, vollständig und entschädigungslos zu enteignen“. Weit stärker aber propagieren national(istisch)e Kreise Ungarns die Kollektivbestrafung der Schwaben. Besonders die Nationale Bauernpartei rührt die Trommel. Generalsekretär Imre Kovács wettert am 7. April 1945 auf einer Versammlung: „Endlich kann Ungarn sein Verhältnis zu Deutschland und zu den Schwaben bereinigen. Die Schwaben haben sich selber aus dem Körper der Nation herausgerissen und in allen ihren Taten bewiesen, daß sie mit Hitler-Deutschland fühlen. Nun sollen sie auch Deutschlands Schicksal tragen. Wir werden sie aussiedeln.“ Und Kis Újság, Parteiorgan der Kleinlandwirte, stimmt ein: Das „deutsche Gift“ müsse ausgeleitet, das „deutsche Geschwür aus dem nun heilenden Körper der Nation herausgeschnitten werden“, heißt es in der Ausgabe vom 18. April 1945. Es herrscht blindwütige Magyaromanie. Kovács brüstet sich: „In den tieferen Schichten aller ungarischen Probleme steckte schon immer die Schwabenfrage; wir haben daher die radikalsten Töne angeschlagen.“ Zu deren Erörterung beruft Innenminister Ferenc Erdei, Führer der Bauernpartei, zum 14. Mai 1945 ein Treffen der Spitzen der die provisorische Regierung bildenden Parteien ein. Man beratschlagt, wie sie angegangen werden sollte. Erdei plädiert für eine „getarnte Lösung“: Grad der Schuld und der Personenkreis seien „so auszuweiten, daß praktisch doch der größte Teil der Deutschen ausgesiedelt werden könnte“. Außenminister János Gyöngyösi (Kleinlandwirte-Partei) weist darauf hin, Woroschilow habe „auf das entschiedenste erklärt, daß die Sowjetunion die Frage der Deutschen als internationale behandeln“ wolle. Zur Vorsicht rät der Sozialdemokrat Árpád Szakasits: Die Frage der Kollektivverantwortung „könnte auch gegenüber dem Ungarntum aufgeworfen werden“ – was dann in der Tschechoslowakei ja auch geschehen sollte. Dagegen stellt der Kommunist Rákosi eine mögliche Verknüpfung mit den in Böhmen, Mähren und der Slowakei von Vertreibung bedrohten Ungarn in Abrede, „besonders, wenn wir festlegen, daß wir sie nicht als Deutsche, sondern als Faschisten verfolgen“. Zoltán Tildy von der Kleinlandwirte-Partei befürwortet die Aussiedlung in Gebiete, von wo aus sie nicht nach Ungarn hineinwirken können sollten. Und: „An das schwäbische Vermögen müssen wir über die Bodenreform herankommen.“ Aus den Ergebnissen, in deren Sinn sodann Gyöngyösi mit Woroschilow die „Schwabenfrage“ erörterte, resultiert schließlich die am 26. Mai formell an die Sowjetunion gerichtete Note: „Die ungarische Regierung ist zu dem Entschluß gelangt, daß es notwendig ist, jene Deutschen, die die Sache Ungarns verrieten und in den Dienst Hitlers traten, aus dem Lande zu entfernen, weil nur auf diese Weise sicherzustellen ist, daß der deutsche Geist und die deutsche Unterdrückung nicht mehr darin Herr werden.“ Sie ersuche Moskau um dessen Einverständnis, die „200.000 bis 250.000 zu entfernenden Deutschen“ nach Deutschland auszusiedeln. Gedenktag an die Vertreibung Ohne Gegenstimme hat das ungarische Parlament Mitte Dezember 2012 den 19. Januar, den Jahrestag des Beginns der Vertreibung im Jahr 1946, zum Gedenktag der „unrechtmäßigen Verschleppung“ der Ungarndeutschen bestimmt. Mit ihm soll der Deutschen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges und in der Zeit danach Verfolgung, Demütigung, Beraubung ihrer Güter und sogar den Tod erleiden mußten, würdig gedacht werden. Unterstützt werden soll zudem die Organisation
von Gedenkveranstaltungen sowie Unterrichtsmaterialien bezüglich der Verfolgung,
Verschleppung und Vertreibung der Ungarndeutschen. Was während der
kommunistischen Ära in Ungarn tabu war, dafür hat sich Ungarns erstes frei
gewählte Parlament 1990 in aller Form entschuldigt. Das Verfassungsgericht hat
alle Bestimmungen, auf denen die Vertreibung fußte, annuliert. „Dokumente der
Schande“ nannte die vormalige Sozialistin Katalin Szili, von 2002 bis 2009
Parlamentspräsidentin, die Vertreibungsdekrete der ungarischen
Nachkriegsregierung. Seit 20 Jahren ist in Ungarn ein Minderheitengesetz in
Kraft. Seit 1995 verfügen alle Volksgruppen, auch die deutsche, über
Selbstverwaltungsorgane.
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