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Was
die deutsche Gesellschaft den Vertriebenen schuldig ist
Historiker widerlegt mit seinem Sachbuch den
Mythos von der geglückten Integration.
von Christian Eger
Kein Volksfest war es, keine Raubtierfütterung oder eine sonstwie publikumstaugliche
Attraktion, die am 20. Mai 1951 das Volk in Scharen in den Zoo der Stadt Halle führte.
Allein die Landesbehörde der Volkspolizei war vorab im Bilde, schritt aber nicht
ein, um stattdessen einen Bericht für das Ministerium des Inneren in Ostberlin zu
verfassen.
Dass ein "starker Zustrom der Bevölkerung nach dem Zoo zu verzeichnen war",
wird gemeldet. "An der Kleidung vieler Menschen war zu erkennen, dass es sich hier
um Umsiedler handelte. Beim Abhören einzelner Gespräche wurde ermittelt, dass die
Neubürger sich zum größten Teil über ihre Heimat, ihre Arbeit und vor allen Dingen
darüber unterhielten, wann sie in ihre alte Heimat zurückkönnen." Und dann das:
"Die Neubürger zeigten wenig Interesse für das Zoogelände und den Tierpark, sondern
saßen stundenlang in der Zoogaststätte."
Ein Verlust ohne Ende
Es waren also nicht Elefant, Tiger & Co., die die "Neubürger" in den halleschen
Zoo lockten. Vielmehr waren es Landschaften, die Namen wie Schlesien oder Ostpreußen
trugen. Weil es für die in der DDR gelandeten Vertriebenen weder Organisationen
noch das Recht auf Versammlung gab, sogar das Absingen von Heimatliedern war verboten,
avancierte der hallesche Zoo zu einem beliebten Anlaufpunkt heimlicher Vertriebenen-Treffen.
2 000 Menschen trafen sich dort am 12. August 1951. Am 10. Mai 1953 schließlich
war es der Staatsmacht zu viel. 140 Stasi-Mitarbeiter kontrollierten sämtliche Ausfallstraßen
Halles. 598 vorläufige Festnahmen erfolgten. Halles Zoo-Publikum war wieder unter
sich.
Die Zoo-Wallfahrt ist eines von zahllosen Geschehnissen, die der Historiker
Andreas Kossert ausgewertet hat. Der Autor vom Jahrgang 1970, der bereits eine vielbeachtete
Kultur- und Landschaftsgeschichte Ostpreußens vorlegte, widmet sich nun der "Geschichte
der deutschen Vertriebenen nach 1945", um unter dem Titel "Kalte Heimat" die These
von der rundum geglückten Integration der Vertriebenen als Zweckpropaganda nicht
einfach nur zu widerlegen, sondern recht eigentlich zu schreddern. Denn Glück für
wen?, muss gefragt werden. Für die ost-west-deutsche Wirtschaft, die nützlich willfährige
Arbeitskräfte fand? Für die Mehrheitsgesellschaft, die mit Verachtung, Missgunst,
ja Hass auf die Zuzügler blickte? Auf Seiten der Vertriebenen konnte von "Glück"
keine Rede sein, belegt Kossert, vielmehr von Demütigungen in Serie, schließlich
von seelischen und kulturellen Traumatisierungen, die fortwirken bis heute. Ein
Verlust, der Verluste nach sich zieht: an Kultur und Geschichte, sittlichem, geistigen
und politischen Takt.
Es waren 14 Millionen Menschen, die nach 1945 aus den deutschen Ostgebieten
Richtung Westen gelangten: mit zehn Millionen Einwanderern führten die West-Zonen
zahlenmäßig; auf die Bevölkerung bezogen, führte der Osten mit vier Millionen prozentual.
Die Bevölkerung Schleswig-Holsteins stieg um 73,1, Niedersachsens um 51,9 Prozent.
Im Osten zählten Mecklenburg-Vorpommern (43,3 Prozent), Brandenburg (24,8) und Sachsen-Anhalt
(24,4) den höchsten Anteil an Vertriebenen, die als "Umsiedler" erfasst wurden.
Wohnen in "Neukorea"
In dem er kapitelweise die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen
Aspekte der Einwanderung abarbeitet, zeigt Andreas Kossert die Situation der Vertriebenen
in der Totale: So detailliert, so vorurteilsfrei und auf der Höhe der erreichbaren
Fakten ist das noch nicht zu lesen gewesen. Und in der Tat: Während die DDR das
Thema Flucht und Vertreibung weitestmöglich unterdrückte, wurde es in der Bundesrepublik
wie von selbst gemieden, indem es bürokratisch-zweckrational verwaltet wurde.
Kossert weist einen alltäglichen "deutschen Rassismus" gegen deutsche Vertriebene
nach, der an die uralten Vorurteile gegenüber den Ost-Völkern anschloss. Die Spottnamen
für die westdeutschen Vertriebenensiedlungen jedenfalls sind sprechend: "Neupolen",
"Neukorea", "Mau-Mau", "Bolschewikien". Unordnung, Dezivilisierung und Fremdenangst
sind die Leitworte hinter den Bezeichnungen. Die Betroffenen antworteten mit Überanpassung
in jeder Hinsicht.
Nach Kossert schuldet heute die Mehrheitsgesellschaft den politisch oft
als "reaktionär" verunglimpften Heimatvertriebenen etwas: die Pflege ihrer Erinnerung,
die Arbeit am kulturellen Erbe. Die östlich unserer Landesgrenzen gelegenen Kulturstätten
wie Breslau oder Danzig, meint Kossert, müssten uns genauso am Herzen liegen wie
der Kölner Dom oder Schloss Neuschwanstein, wenn das kollektive Gedächtnis nicht
verkümmern soll. Zudem wird der Theologe Joachim Gauck zitiert: "Es ist eben kein
Paradigmenwechsel angesagt, der deutsche Schuld leugnen und die Nation als Opfer
darstellen wollte. Es geht allerdings um eine Paradigmenergänzung, die das Leid
Unschuldiger als solches wahrnimmt, ernstnimmt und - womöglich - betrauert." Welches
Leid da zur Kenntnis genommen werden müsste, zeigt Kossert so eindrücklich wie kein
Autor zuvor.
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Bezugshinweis zum Buch "Kalte Heimat"
http://www.bpb.de/publikationen/HK15GC,0,Kalte_Heimat.html
weitere Informationen:
Vertrieben wie «Ungeziefer»
Zwangsaussiedlungen von mehr als 8.000 Menschen entlang der gesamten Grenze im
Juni 1952
www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1227249...
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