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"Warum erst jetzt?" "Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?" So fängt Rainer Maria Rilkes erste der berühmten zehn Duineser Elegien an. Nun, wer hat die Stimme der Vertriebenen in den letzten 57 Jahren überhaupt vernommen? Wer hörte das Klagen der Mütter und Kinder Ostpreußens, als sie am 30. Januar 1945 mit der Wilhelm Gustloff in die Tiefe der Ostsee gezogen wurden? Wer hörte denn die Stimme der Dichterin Agnes Miegel, als sie Ostpreußen besang? Wer vernahm die Klage Tausender Unschuldiger, die Schreie der geschändeten und ermordeten Frauen von Nemmersdorf und Metgethen, der verschleppten Ostpreußinnen, der Frauen aus Pommern und Schlesien, als sie elend im Ural und in Sibirien umkamen? Wer hörte damals? Wer hört denn heute die Stimme der von Agnes Miegel besungenen Heimatlosen? Beschämend war und bleibt es, daß diese Mitmenschen, die so viel gelitten hatten und endlich in den Westen gelangt waren, allzuoft als unwillkommene Fremde empfangen wurden. Freilich, Deutschland lag in Trümmern, war ausgebombt. Millionen Männer waren in Kriegsgefangenschaft. Und dann: in diese Misere kamen die Vertriebenen - auch noch. Diese verjagten Menschen - sie mußten neu anfangen, sich ein neues Heim aufbauen. Aber wer hörte sie an, als sie das seelische und allermenschlichste Bedürfnis empfanden, über ihr Leiden zu reden? Lange, sehr lange war keine Empathie für sie da. Wie ein Leichentuch fiel das Tabu flächendeckend über die ganze Tragödie der Vertreibung, und man durfte das Tuch nicht heben. Aber, es waren nicht nur die Täter, die Vertreiberstaaten, die diese Schande mit dem Bahrtuch des Vergessens bedecken und verschließen wollten. Es waren auch die Bundesdeutschen, die die Vertriebenen oft als "Ewiggestrige" und "Revanchisten" beschimpften, als diese über ihre geliebte Heimat - Landschaften und Seen, Wälder und Elche - schreiben und sprechen wollten. Generationen von Vertriebenen und ihren Nachkommen haben gelebt, wieder aufgebaut, ihre Kultur bewahrt und neu geschaffen. Lange haben sie ihr Leid und ihre Klage schweigend mit sich getragen. Sie mußten die Ungerechtigkeit erleben, daß über das Leid von anderen gesprochen wurde, immer wieder und immer wieder, während dem eigenen Leiden nur Schweigen und Tabuisierung galten - als ob die deutschen Vertriebenen gar nicht gelitten hätten, als ob Opfer in separaten Kategorien von politisch korrekten und politisch inkorrekten Opfern aufgeteilt und abgeurteilt werden könnten. Groß war die Gefahr, daß die Entwurzelung der Vertriebenen sie zu geistig Enterbten und Entleerten machen würde. Und dennoch schrieben und sprachen sie. Die großen Treffen der Vertriebenen, auch die wachsende Vertreibungsliteratur haben bewiesen, und sie veranschaulichen heute noch, daß Heimat etwas Wesentliches für den Menschen ist, daß das Recht auf die eigene Heimat notwendigerweise ein fundamentales Menschenrecht bildet, welches eine Voraussetzung für die Ausübung vieler anderer Rechte darstellt und deren Genuß überhaupt erst ermöglicht. Dies bemerkte ja der erste UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Jose Ayala Lasso, in seinem Grußwort vor den Vertriebenen am 28. Mai 1995 in der Paulskirche zu Frankfurt. Nun denke ich an die neunte Duineser Elegie, wo Rilke die Erde besang: Und in der zehnten Elegie apostrophierte Rilke die Zeit, aber auch jene Stelle, Siedlung, Lager, Boden, Wohnort - ich würde noch hinzufügen - jene Seen, die Flüsse, das Rauschen des Windes durch die Wälder, die leisen Wellen in Weizenfeldern, das besondere Licht des Himmels, die vertrauten Düfte der Heimat. Rilke war bekanntlich Prager Deutscher - also Ostdeutscher, wie die Ostpreußen auch. Die jüngste Vertreibungsliteratur Ostpreußens hat auch viele Dichter hervorgebracht - Agnes Miegel, Siegfried Lenz, Arno Surminski, Marion Gräfin Dönhoff, Else Stahl, Ernst Wiechert und natürlich Günter Grass aus dem westpreußischen Danzig. Die Kulturstiftung der Deutschen Ver- triebenen hat literarische Zeugnisse von Flucht und Vertreibung gesammelt und veröffentlicht. Auch der Ostdeutsche Kulturrat und die Künstlergilde haben eine bedeutende Rolle bei der Sicherung und Vermittlung dieser literarischen und künstlerischen Zeugnisse gespielt. "Warum erst jetzt? ... Weil ich wie damals, als der Schrei überm Wasser lag, schreien wollte, aber nicht konnte ..." So beginnt der neue Roman von Günter Grass, "Im Krebsgang". So werden heute endlich die Schreie Rilkes vernommen, die die Schreie der Ertrinkenden im eiskalten Wasser der Ostsee auch sind. Grass bemerkt hinzu: "Niemals ... hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen dürfen." Dieses Versäumnis sei bodenlos ... Aber, meine Damen und Herren, wenn Frageverbote und Denkverbote dieses Schweigen bestimmten, wer hat eigentlich die Tabus errichtet, und weshalb hat man solche Tabus hingenommen? Man kann es wohl begrüßen, daß nach dem Buch von Günter Grass die Beschäftigung mit der Thematik sowie mit den individuellen Tragödien allmählich gesellschaftsfähig werden. Endlich wird die große Geschichte der Vertreibung von den deutschen Medien zur Kenntnis genommen. Vielleicht wird sie noch zu großen Romanen inspirieren, etwa im Stil Margaret Mitchells "Vom Winde verweht". Aber gewiß wurde die Thematik nicht erst durch Günter Grass oder gar durch die bundesdeutschen Neulinken entdeckt. In der Tat wurde sie von vielen ernstzunehmenden Historikern wie Andreas Hillgruber, Gotthold Rhode, Theodor Schieder, Hans Rothfels und Werner Conze bereits in den fünfziger und sechziger Jahren bearbeitet. Sie wurde auch von Menschenrechtsgruppen angenommen - etwa von Tilman Zülchs Gesellschaft für bedrohte Völker und von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Aber nie wurde sie ausreichend in der breiten Öffentlichkeit diskutiert. Und es wurde nicht ausreichend darüber reflektiert. Vertreibung bleibt auch heute ein Stiefkind der Geschichtsschreibung und ein Stiefkind des gesellschaftlichen Bewußtseins. Nun muß man das tun, was jahrzehntelang verpaßt wurde und deshalb jetzt umso schwieriger ist - nämlich darüber an den Schulen und Universitäten lehren. Und nicht nur im Geschichtsunterricht - denn die Vertreibung der Deutschen hat kulturelle, soziologische, psychologische, juristische, und menschenrechtliche Dimensionen ... Man soll Agnes Miegels Dichtung in ihrer Vielfalt studieren. Auch Alexander Solschenizyns Gedicht "Ostpreußische Nächte", das für mich eine überaus große Bedeutung als Dokument der Unmenschlichkeit und zugleich der Menschlichkeit besitzt, soll in den Schulen gelehrt werden. Man bedauert aber, daß die Anerkennung des Leidens der Vertriebenen für die Erlebnisgeneration reichlich spät kommt. Diese Generation, die so viel hat ertragen müssen, hat auf eine angemessene Würdigung ihrer Leistung Jahr um Jahr vergeblich gewartet. Sie ist allmählich und ganz still von uns gegangen. Dies - finde ich - ist eine bleibende und fortwährende gesellschaftliche Schande. Jene Generation, die vertrieben wurde, die aufbaute, die über das eigene Leiden schweigen mußte, sie ist kaum mehr da, um eine späte Anerkennung - falls sie endlich kommen sollte - entgegenzunehmen. Persönlich möchte ich eine Frau nennen, die mich in die Thematik der Vertreibung gewissermaßen einführte - Frau Ursula Schlenkhoff, geborene Ausländer, eine glänzende, kluge Frau aus Königsberg, die Ehefrau des Rechtsanwaltes Friedrich Wilhelm Schlenkhoff aus Herne, bei dem ich im Sommer 1969 ein Praktikum absolvierte. Sie erzählte mir über Ostpreußen, über den Tod ihres jungen Bruders, über die Vertreibung. Den menschlichen Einfluß, den Frau Schlenkhoff auf mich ausübte, spüre ich heute noch. Sie war eine Frau mit dem Sinn für Verhältnismäßigkeit, für den griechischen "Metron ariston, meden agan." Sie starb bereits im Jahre 1976, aber ich denke oft an sie - und an ihren Mann, durch den ich deutscher Corpstudent beim Corps Rhenania zu Tübingen wurde, als ich mit einem Fulbright-Stipendium nach Deutschland kam. Hier möchte ich auch meine zahlreichen Begegnungen mit Professor Hans Rothfels in Tübingen erwähnen, der als Mitherausgeber der Dokumentation der Vertreibung eine für die Zukunft entscheidende Sammlung von Erlebnis- berichten und Dokumenten schuf. Auch meinem Mentor, Professor Dietrich Rauschning vom Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen, soll heute ge- dankt werden, denn ohne ihn wären meine Bücher "Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen" und "Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle" gar nicht zustande gekommen. Beide wurden geschrieben, als ich wissenschaftlicher Assistent bei ihm war. Von ihm lernte ich auch vieles über ostpreußische Kultur, Anständigkeit und intellektuelle Redlichkeit. Auch in Göttingen nützte ich die Forschungsmöglichkeit des Göttinger Arbeitskreises und lernte viele herzliche Ostpreußen kennen, wie Dr. Detlev Queisner und seine Gemahlin, deren Gastfreundschaft ich öfter genoß, und durch die ich die völkerverbindenden Jahrestreffen am Rosengarten zu Göttingen wiederholte Male mitmachte. Nun bedeutet für mich "ostpreußische Kultur" nicht nur die von den Vertriebenen weiter erschaffene und getragene Kultur. Für alle Deutschen und Nicht-Deutschen wird Königsberg stets mit dem Namen Immanuel Kant verbunden bleiben. Wir denken auch an Johann Gottfried von Herder, Otto Nicolai, E.T.A. Hoffmann, Lovis Corinth und natürlich an die Bildhauerin Käthe Kollwitz, deren "Pieta" als zentrale und einzige Skulptur in der Neuen Wache zu Berlin weint - und wacht. Dort lesen wir: "Wir gedenken der Unschuldigen, die durch Krieg und Folgen des Krieges in der Heimat, die in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind." Ja, Käthe Kollwitz, die große Künstlerin, Pazifistin und Königsbergerin, hat die Schreie der Kriegsopfer erhört. Wir alle gedenken dieser Opfer. Aber wann, wann werden der Engel Ordnungen der großen Weltpolitik die Klage der deutschen Vertriebenen anerkennen und das furchtbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Namen nennen? Ich meine, das moralische Gesetz gebietet es halt. Als Nicht-Deutscher bin ich dankbar, daß ich die deutsche Kultur - auch die ostpreußische - kennenlernen durfte. Ich schätze sie und fühle mich davon wesentlich beeinflußt und bereichert. Ich bin vor allem dankbar, daß ich auch ihr Leid in meinem Herz mittragen durfte - in Ehrfurcht und Respekt. Mit einem Gedanken Immanuel Kants möchte ich nun schließen: So lesen wir in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) und früher einmal auf der Gedenktafel an der Schloßmauer in Königsberg: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Dies gilt, meine Damen und Herren, für uns alle. -o-o-o-o-o-o-o-o-o- Lieferbare Bücher:
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_________________ Stets an der Seite der Opfer: Alfred M. de Zayas, Dr. jur. (Harvard) und Dr. phil. (Göttingen), auf dem Deutschlandtreffen in Leipzig Foto: Pawlick
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