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  Kluge Analyse der Vertreibung

R.M. Douglas: "Ordnungsgemäße Überführung", C.H. Beck
Von Otto Langels

Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg: Ein heikles Thema, bis heute sorgt es in steter Regelmäßigkeit für hitzige Diskussionen. Es ist vermutlich kein Zufall, dass sich mit Douglas ein irischer Historiker an eine erste lesenswerte Gesamtdarstellung gewagt hat.

Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten war eine der bittersten Konsequenzen des von Hitler entfesselten Weltkriegs. Ostpreußen, Schlesier und Sudetendeutsche mussten stellvertretend für Massenmord und Holocaust, für ein brutales Besatzungsregime und eine Politik der verbrannten Erde büßen.

Diesen Zusammenhang betont auch R. M. Douglas in seiner brillanten Darstellung. Zeitlich spannt der Autor den Bogen von den ersten Vertreibungsplänen während des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahr 1949, geografisch konzentriert er sich auf die Gebiete im heutigen Tschechien und Polen.

Douglas macht darüber hinaus deutlich, dass die Zwangsumsiedlungen eine längere Vorgeschichte hatten, die in die Zeit vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten zurückreicht. Der erste tschechoslowakische Präsident, Tomas Masaryk, bezeichnete in seiner Antrittsrede im Dezember 1918 seine sudetendeutschen Mitbürger als "Einwanderer und Kolonisten". Im öffentlichen Dienst wurden, so Douglas, Sudetendeutsche systematisch diskriminiert.

Die Deutschen, die bei der Volkszählung von 1930 über 23 Prozent der Bevölkerung ausmachten, stellten fünf Jahre später nur 2 Prozent der höchsten Beamten, 5 Prozent der Offiziere und 10 Prozent der Beschäftigten der staatlichen Eisenbahn.

Bereits im Sommer 1943, lange bevor die Alliierten konkrete Beschlüsse zur europäischen Nachkriegsordnung fassten, erhielt die tschechoslowakische Exilregierung von den Großmächten die Zusage, nach dem Krieg die Sudetendeutschen aus dem Land zu vertreiben. Mitte des 20. Jahrhunderts waren Umsiedlungen von Millionen Menschen ein "modisches Allheilmittel" für Konflikte mit nationalen Minderheiten. Winston Churchill erklärte im Dezember 1944 im britischen Unterhaus:

Vertreibung ist, soweit wir in der Lage sind, es zu überschauen, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen, wie zum Beispiel im Fall von Elsaß-Lothringen. Reiner Tisch wird gemacht werden.

R. M. Douglas weist zu Recht darauf hin, dass lange bevor die Alliierten Umsiedlungen ins Auge fassten, das NS-Regime mit dem "Generalplan Ost" ein größenwahnsinniges Projekt vorbereitete, wonach bis zu 50 Millionen Mittel- und Osteuropäer getötet oder vertrieben werden sollten, um Platz für deutsche Siedler zu schaffen. Die Vorstellung der Alliierten, größere Bevölkerungsverschiebungen ohne entsprechende logistische Vorbereitung human und geordnet durchführen zu können, war, so Douglas, entweder zynisch oder eine Selbsttäuschung von atemberaubendem Ausmaß.

Denn was bis Ende des Jahres 1945 folgte, war eine Phase blinder Rache und Gewalt, deren schlimmste Exzesse aber nicht von einem ungezügelten Mob, sondern von tschechischen und polnischen Soldaten, Polizisten oder Milizen verübt wurden.

Die sieben Monate währende Periode der "Wilden Vertreibungen" bedeutete einen gewaltigen Ausbruch staatlich geförderter Gewalt, der nach vorsichtigen Schätzungen Hunderttausende von Opfern forderte. Als solche sind sie einzigartig in der Geschichte der Friedenszeiten im Europa des 20. Jahrhunderts.

Die Darstellung von R. M. Douglas ist bemerkenswert, weil sie den Blick weitet und zum Beispiel über den unmittelbaren Vorgang der Vertreibungen hinaus der Politik der Alliierten breiten Raum gibt. Aus der Fülle wissenschaftlicher und populärer Werke zum Thema ragt Douglas' Buch als eine der wenigen fundierten, Hintergründe und Konsequenzen ausleuchtenden Überblicksdarstellungen heraus.

In der Arbeit finden sich nur wenige Beschreibungen von Gräueltaten. Aber der Autor verliert das Leid der Opfer nicht aus dem Auge. Die Beispiele von Misshandlung, Hunger, Krankheit und Gesetzlosigkeit vermitteln ein eindringliches Bild, was sich hinter dem euphemistischen Begriff "Ordnungsgemäße Überführung" verbarg: kleine lebende Leichname in speziellen Kinderlagern, Frauen als Opfer sexueller Gewalt, Essensrationen von zwei Löffeln Maisbrei pro Tag in Internierungslagern. Im tschechischen Lager Linzervorstadt stand am Eingang anstelle des SS-Mottos "Arbeit macht frei" der Bibelvers "Auge um Auge, Zahn um Zahn":

Die Strafen für so triviale Vergehen wie das Nichtabnehmen der Mütze in Anwesenheit eines Lageraufsehers waren streng, darunter so charakteristische Merkmale der NS-Konzentrationslager wie das Aufhängen an Pfählen, Auspeitschen mit Stahlruten und nächtelange Appelle oder Paraden.

R. M. Douglas sieht Ähnlichkeiten mit dem NS-Lagersystem: von der Behandlung der Internierten über die identische Bezeichnung als "Konzentrationslager" bis zur Nutzung derselben Baracken. Dennoch verbietet sich für ihn jede Gleichsetzung der schlimmsten Nachkriegslager mit dem deutschen KZ.

Die deutschen Lagerinsassen waren die Opfer von Misshandlungen und böswilliger Vernachlässigung, aber nicht von einem systematischen Massenmordprogramm. Die große Mehrheit überlebte ihre Haft; alle Länder ließen ihre Gefangenen schließlich frei. Nichts davon lässt sich über das NS-Lagersystem während des Krieges sagen.

Eigentlich hätte die "Überführung" von zwölf bis 13 Millionen verarmten und traumatisierten Deutschen in ein zerbombtes Land in eine Katastrophe münden müssen, zumal die Deutschen zwischen Rhein und Oder ihre Landsleute aus dem Osten nicht bereitwillig aufnahmen. Der Historiker Andreas Kossert hat 2008 die massive Abwehrhaltung im Westen in dem Buch "Kalte Heimat" eindrucksvoll geschildert.

Dass die Integration trotz immenser Anlaufschwierigkeiten letztlich dennoch gelang, schreibt R.M. Douglas vor allem dem mäßigenden Auftreten der Vertriebenenfunktionäre und dem Wirtschaftswachstum zu.

Knapp sieben Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Vertreibung in Deutschland und in den östlichen Nachbarstaaten immer noch ein brisantes Thema, zuletzt abzulesen an den kontroversen, emotional geprägten Debatten um ein angemessenes Erinnern oder um die umstrittene Rolle Erika Steinbachs als Vertreterin der Vertriebenen. Allen Interessierten sei das Buch von R. M. Douglas als Lektüre empfohlen, denn der Autor versteht es hervorragend, eine kluge Analyse mit eindrücklichen Schilderungen und pointierten Aussagen zu verbinden; eine ausgewogene Gesamtdarstellung, die falsche Fronten, Vorurteile und Fehleinschätzungen abzubauen vermag, ein in jeder Hinsicht lesenswertes Werk.

R.M. Douglas: "Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg".
C.H.Beck Verlag, 556 Seiten, 29,95 Euro. ISBN: 978-3-406-62294-6

Quelle:
Deutschlandradio Kultur, 27.02.2012,
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/andruck/1688614/

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