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»Deutsche ausrotten«
Der Historiker Dr. Stefan Scheil über
antideutsche Ausschreitungen in Polen im Jahr 1935
Herr Dr. Scheil, im April und Mai 1935 flammten
antideutsche Ausschreitungen in den nach dem Versailler Vertrag an Polen abgetretenen
Gebieten wieder auf – in Ost-Oberschlesien, z.B. in Kattowitz und Laurahütte, aber
auch in Posen-Westpreußen. Was waren der Anlaß und die Motive für diese Ausschreitungen?
Scheil: Es ist schwer, hier einen
konkreten Anlaß als wirklichen Grund zu nennen. Ausschreitungen gegen alle nicht
ethnisch polnischen Staatsbürger der Republik Polen lagen zu dieser Zeit ständig
in der Luft. Das traf Deutsche, aber auch Ukrainer und vor allem Juden. Israelische
Historiker schätzen, daß 1935/36 etwa eintausend Juden bei Pogromen in Polen erschlagen
wurden. Hintergrundmotive dieser Gewalttaten waren sowohl die extreme Armut als
auch der übersteigerte polnische Nationalismus dieser Zeit. Polnische Nationalisten
fühlten sich durch die Geschichte, vor allem durch die polnischen Teilungen, jahrhundertelang
von der Welt betrogen und deshalb nach der Wiedererstehung Polens berechtigt, es
nun allen heimzuzahlen. Das polnische Selbstbild als ewiges Opfer ist ein ganz zentrales
Motiv.
Hatte nicht der – knapp ein Jahr nach Hitlers
Ernennung zum Reichskanzler proklamierte – deutsch-polnische Nichtangriffsvertrag
ein Signal für eine Verbesserung der Beziehungen sein sollen?
Scheil: Der Vertrag vom 26. Januar 1934 bedeutete in der Tat eine
Verbesserung der Beziehungen, nachdem noch 1932/33 ein polnischer Angriff auf die
späte Weimarer Republik auf der Tagesordnung gestanden hatte. Von dem deutsch-polnischen
Nichtangriffspakt als einem Freundschaftsvertrag zu sprechen, wäre aber überzogen.
Denn an der grundsätzlichen Erwartungshaltung in Warschau, daß man zur Selbstbehauptung
und Erweiterung Polens einen Krieg gegen Deutschland führen müsse, hat sich in den
dreißiger Jahren zu keinem Zeitpunkt etwas Substantielles geändert.
Hatte Hitlers Regierung mit dem Nichtangriffsvertrag
nicht sogar die alten Eliten der Republik brüskiert, auch das Auswärtige Amt und
die Reichswehr, bei denen bis dahin der Konsens bestand, „gutnachbarliche“ Beziehungen
zu Polen könne es nur dann geben, wenn Warschau „Rück-Revisionen“ seiner Westgrenze
zustimmen würde?
Scheil: Mitglieder des deutschen Kabinetts und des Auswärtigen
Amts forderten nicht nur eine Grenzrevision, sondern stellten das Existenzrecht
Polens teilweise grundsätzlich in Frage. Militärs wie Seeckt und Politiker wie Stresemann
wollten während der Weimarer Republik das Ende des polnischen Staates. Die erste
Denkschrift, die das Auswärtige Amt dem neuen Kanzler Hitler in dieser Frage zuleitete,
forderte wörtlich eine „totale Lösung“. Der konservative Außenminister von Neurath
erläuterte das vor dem Kabinett mit den Worten, man dürfe sich gegenüber Polen nicht
mit kleinen Grenzrevisionen zufrieden geben. Noch zur Jahreswende 1938/39 notierte
der Staatssekretär im Außenamt, Ernst von Weizsäcker, er hätte Ribbentrop und Hitler
empfohlen, „Polen auf das uns genehme Maß als Puffer gegen Rußland zu reduzieren“.
Als Mittel sollte die Forderung nach sofortiger Rückgabe Danzigs und nach einer
„sicheren Landbrücke“ nach Ostpreußen dienen. Das war zu einem Zeitpunkt, als Ribbentrop
und Hitler der Republik Polen eine Garantie ihres damaligen Territoriums anboten.
Hier bestand tatsächlich ein heute weitgehend vergessener Gegensatz der NS-Führung
zu Teilen der alten Eliten.
Welche Vorteile hatte sich Hitler von dem spektakulären
deutsch-polnischen Abkommen versprochen?
Scheil: Wie gesagt, beseitigte das Abkommen von 1934 zunächst die
unmittelbare Angriffsdrohung aus Polen. Es verschaffte der NS-Regierung zudem internationales
Ansehen, weil es konstruktiven Charakter hatte. Im Jahr 1933 waren mit dem endgültigen
Stop von Reparationsleistungen, dem Rückzug aus den Genfer Abrüstungsverhandlungen
und dem Austritt aus dem Völkerbund zunächst vorwiegend destruktive deutsche Schritte
vorausgegangen.
Worin lag der gegenseitige Nutzen, das „Quid-pro-quo“
der Vereinbarung?
Scheil: Polen erreichte indirekt die Anerkennung des territorialen
Status quo durch Deutschland, demonstrierte vor allem aber den Westmächten, daß
es eine eigene Politik betreiben wollte und nicht länger bereit war, als stete,
billige Drohkulisse gegen Deutschland aufzutreten.
Wie wurde der Pakt in der polnischen Öffentlichkeit
aufgenommen?
Scheil: Die polnische Öffentlichkeit akzeptierte den Pakt als Mittel
praktischer Politik, faßte ihn aber nicht als grundsätzliche Wende im deutsch-polnischen
Verhältnis auf. Vereinzelt erhoben sich Stimmen wie die des Publizisten Wladislaw
Studnicki, der sich für ein langfristiges Bündnis mit Deutschland in Form einer
Blockbildung aussprach, aber das blieben Ausnahmen. Symptomatischer war die Beförderung
eines Mannes wie Henryk Baginski in den polnischen Generalstab, der in seinen Veröffentlichungen
nichts geringeres forderte als die Auslöschung Preußens, die Rückeroberung aller
früher slawischen Länder und die Verlagerung der deutschen Hauptstadt nach Frankfurt
am Main, da Berlin auf slawischem Gebiet liege.
Lag es denn in Berlins Kalkül, einen Polen-Pakt
auszuhandeln, den es letztendlich gar nicht einhalten wollte?
Scheil: Nein, zumindest gibt es keinen Beleg dafür, daß der Pakt
von deutscher Seite abgeschlossen wurde, um gebrochen zu werden. Aber in den überlieferten
Geheimreden Hitlers, etwa der Hoßbach-Niederschrift, taucht stets ein trotz Nichtangriffspakt
geführter polnischer Angriff als mögliches Szenario auf. Nach dem Abschluß des englisch-polnischen
Abkommens im Frühjahr 1939 sah man in Berlin dann Polen endgültig als Feind und
kommenden Angreifer an. Die Details der Vereinbarungen Polens mit Frankreich und
England schlossen zudem einen polnischen Angriff auf Deutschland als möglichen Bündnisfall
mit ein. Das war ein bis dahin einzigartiger Vorgang in der englischen Geschichte.
Der britische Botschafter in Berlin äußerte nach dieser Entwicklung im Sommer 1939
die Ansicht, Hitler müsse den Eindruck haben, daß England den Krieg um jeden Preis
wolle.
Gab es in den Optionen der deutschen Reichsregierung
auch die Hoffnung auf eine wirkliche Aussöhnung mit einem bisherigen „Erbfeind“?
Scheil: Polen sollte seit Herbst 1938 als deutscher Verbündeter
gewonnen werden und in etwa den Rang Italiens erhalten. Der Begriff der „wirklichen
Aussöhnung“ im heutigen Sinn ist den 1930er Jahren aber fremd. Es galt gerade als
Nachwirkung des Ersten Weltkriegs weiter als selbstverständlich, daß die internationale
Politik in Europa zwischen konkurrierenden Nationalstaaten stattfand, zwischen denen
gegenseitige Achtung möglich war, aber auch Krieg. Beides galt als eine Frage des
Datums. Zwar erhoben die damals bestehenden Organisationen wie der Völkerbund den
Anspruch, daran grundsätzlich etwas zu ändern. Sie hatten sich aber in der Praxis
als Instrumente nationalstaatlicher Machtpolitik der Sieger von 1919 erwiesen und
waren damit diskreditiert. Wirkliches Vertrauen bestand nicht, stattdessen lagen
ethnische Säuberungs- und Vertreibungsphantasien auf allen Seiten in der Luft. Selbst
ein gemäßigter Mann wie Andre Francois-Poncet, der langjährige französische Chefdiplomat
in Deutschland, äußerte 1938 Bedauern darüber, daß man die Deutschen nicht ganz
aus Europa vertreiben könne, wie man es im Mittelalter mit den Mauren getan hatte.
Hat Deutschland in den Folgejahren gezeigt, daß
es bereit war, polnische Ziele zu unterstützen?
Scheil: Die polnische Regierung nutzte die deutsche Revisionspolitik,
um eigene Forderungen gegenüber der Tschechoslowakei und Litauen durchzusetzen.
Das geschah mit der Billigung Berlins, das davon indirekt auch selbst profitierte,
weil die Westmächte dadurch nicht mit der Hilfe Polens zur Stützung der 1919 in
Versailles gezogenen Grenzen rechnen konnten. Allerdings betonte Polens Außenminister
Beck im September 1938 bei einer Beratung der polnischen Führung, er könnte innerhalb
von 24 Stunden auf die Seite Englands und Frankreichs wechseln. Auch solch ein Schritt
war eine Frage des richtigen Datums und des gebotenen Preises.
Nochmals zurück zu den Unruhen vor 75 Jahren
im Jahre 1935: Kann etwa die Volksabstimmung im Saargebiet im Januar 1935, die „Heimkehr
der Saar“, polnische Befürchtungen ausgelöst haben, jetzt sei die „Sammlung der
deutschen Erde“ angesagt und Berlin werde den Ausgleichskurs mit Warschau wieder
verlassen? Oder hat die Wiedereinführung der Wehrpflicht im März 1935 eine Rolle
gespielt?
Scheil: Der Druck auf die Deutschen in Polen hatte zu keinem Zeitpunkt
wirklich aufgehört. Manche antideutschen Agitationsvereine mußten seit 1934 zwar
ihren Namen ändern und die Aktivitäten dämpfen. Dennoch gingen die wirtschaftlichen
und kulturellen Maßnahmen in diese Richtung weiter und wurden durch die internationale
Politik damals weder besonders beschleunigt noch verlangsamt. Der deutsche Botschafter
in Warschau berichtete 1935, es sehe so aus, als wollte die polnische Regierung
während der zehnjährigen Laufzeit des Nichtangriffspakts durch ein Aus für die Deutschen
in Polen vollendete Tatsachen schaffen. Der Wojwode von Oberschlesien, Michal Grazynski,
faßte seine Politik zu dieser Zeit in der Tat mit den lapidaren Worten „Deutsche
ausrotten“ zusammen.
Was waren die Gründe dafür, daß Polen sich immer
mehr in den Sog der Politik der Westmächte ziehen ließ und dem Ausgleichskurs Berlins
– der ja offenbar wirklich bestanden hat – immer weniger entsprach?
Scheil: Diese Gründe lagen zum einen in der grundsätzlichen Erwartungshaltung
in Warschau, daß ein deutsch-polnischer Konflikt wegen der sich gegenseitig ausschließenden
Ansprüche langfristig unvermeidlich sei. Diese Ansicht konnte sich, wie gesagt,
auf entsprechende Äußerungen deutscher Verantwortlicher stützen und traf daher in
gewisser Weise zu. Zum anderen ließen die kriegsgeneigten Kreise um Winston Churchill
seit Mitte 1938 erkennen, einen gegen Deutschland gerichteten polnischen Kurs mit
handfesten Zusagen bezahlen zu wollen. Als der polnische Außenminister Beck im Frühjahr
1939 nach London fuhr, setzte er deshalb offiziell „Kolonien, Juden und Danzig“
auf seinen Forderungskatalog. Dabei bedeutete der Punkt „Juden“ die offen erhobene
Forderung der polnischen Regierung nach Auswanderung aller polnischen Juden nach
Afrika. Der frühere und zu dieser Zeit nach England emigrierte deutsche Reichskanzler
Heinrich Brüning hat darüber hinaus ausgesagt, daß bei dieser Gelegenheit ein englisch-polnisches
Teilungsabkommen in Bezug auf Teile Ostdeutschlands geschlossen worden sei, das
man ihm später während des Krieges zur Kenntnis gegeben hat. In London konnte man
im Krieg übrigens Henryk Baginski wieder antreffen, der seine Eroberungspläne jetzt
in englischer Übersetzung präsentierte.
Stehen die polnischen Ausschreitungen von 1935
in einem Zusammenhang mit den späteren Ausschreitungen unter der Sammelbezeichnung
„Bromberger Blutsonntag“?
Scheil: Die Ausschreitungen von 1935 können als Auftakt zu den
Gewalttaten an den Deutschen in Polen im Jahr 1939 gelten, die bekanntlich Tausende
von Todesopfern forderten. Sie gehören zu einer nationalistisch aufgeladenen und
durch den Ersten Weltkrieg tief erschütterten Epoche.
Ist davon etwas in den heutigen deutsch-polnischen
Beziehungen übriggeblieben?
Scheil: Diese Ära ist heute vorbei, und man kann zudem in Bezug
auf Polen nicht von Erbfeindschaft sprechen. Die deutsch-polnischen Beziehungen
wie die internationalen Beziehungen überhaupt erlebten zwischen 1918 und 1945 einen
Tiefpunkt ohne historische Parallele. Jede verantwortungsvolle Politik wird darauf
abzielen, daß dies Vergangenheit bleibt und nationalstaatliche Konkurrenz friedlich
stattfindet. Es ist heute möglich, öffentlich einen differenzierten Blick auf die
Ursachen und Ereignisse zu werfen, die zum deutsch-polnischen Krieg von 1939 führten.
Die Redewendung vom unprovozierten „deutschen Überfall auf Polen“ ist unangebracht,
ebenso wie die immer wieder anzutreffende Deutung, es seien die deutschen Gebiete
östlich von Oder und Neiße der Republik Polen im Jahr 1945 quasi gegen ihren Willen
aufgedrängt worden. Meine Forschungsergebnisse zu Ausbruch und Eskalation des Zweiter
Weltkrieg lassen erkennen, daß er die Konsequenz einer ganzen Reihe von zwischenstaatlichen
und ideologischen Konflikten war, letztlich das Ergebnis einer „vereinten Entfesselung“.
Herr Dr. Scheil, vielen Dank für das Gespräch.
Stefan
Scheil, Historiker, 1963 in Mannheim geboren, Studium der Geschichte und Philosophie
in Mannheim und Karlsruhe, Dr. phil. 1997 in Karlsruhe. Er forscht zur Vorgeschichte
und Eskalation des Zweiten Weltkriegs, sowie zum politischen Antisemitismus in Deutschland
und schreibt als freier Mitarbeiter für die Wochenzeitung Junge Freiheit
und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Scheil veröffentlichte zuletzt
die Bücher Churchill, Hitler und der Antisemitismus. Die deutsche Diktatur,
ihre politischen Gegner und die europäische Krise der Jahre 1938/39 und
Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die
vereinte Entfesselung
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