Flüchtlingskrise: Das kostbare Recht auf Rückkehr
Viele deutsche Vertriebene wollten in ihre Heimat zurück. Heute ist das geltendes Recht - und doch ist fast nur noch von Integration die
Rede.
von Manfred Kittel
Zu den Unterschieden zwischen dem aktuellen Flüchtlingsdrama und der Lage der deutschen Heimatvertriebenen nach 1945 zählt nicht zuletzt ein Paradoxon: Damals war die Frage der Rückkehr der Millionen Deutschen aus dem Osten, die es in die westlicheren Teile ihres Vaterlandes verschlagen hatte, über viele Jahre, ja Jahrzehnte eines der großen Themen der vertriebenenpolitischen Debatte. Im Flüchtlingsdiskurs heute ist dagegen fast nur von der Integration und von ihren Herausforderungen die Rede. Der Unterschied mutet umso seltsamer an, als es damals um die vergleichsweise einfachere Aufnahme von sprachlich und kulturell eng verwandten Gruppen ging und nicht um Flüchtlinge aus oft völlig anderen kulturellen und religiösen Milieus.
Gewiss, 1945 wusste man, dass der Krieg definitiv zu Ende war, während heute im Nahen Osten ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen noch nicht in Sicht ist. Doch man muss auch sehen, welche Zustände nach 1945 in jenen Gebieten herrschten, die bis dahin jahrhundertelang Heimat der vertriebenen Deutschen gewesen waren: Kommunismus, Misswirtschaft und Mangel an elementarsten Menschenrechten. Insofern war das Ziel der Rückkehr für viele Ostdeutsche immer mit der Erwartung verknüpft, dass vorher die kommunistischen Diktaturen überwunden werden müssten.
Gemessen an dieser schwierigen Konstellation, war der Rückkehrwunsch erstaunlich stark. Das „Recht auf die Heimat“ wurde gefordert, sobald dies den Betroffenen unter den Verhältnissen der alliierten Besatzungsherrschaft und des sogenannten Koalitionsverbotes möglich schien, spätestens dann eindrucksvoll und vernehmlich in der Stuttgarter Charta der Heimatvertriebenen 1950: „eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit“. Die Forderung war in den 1950er Jahren noch kein allgemein anerkannter Völkerrechtstitel; doch das „Recht auf die Heimat“ und das hieß vor allem auch immer: auf die Rückkehr dorthin, gehörte seit den 1960er Jahren zu den wichtigsten Kapiteln im politischen Katechismus der Landsmannschaften. Abgeleitet wurde es wenn nicht aus dem Naturrecht, so doch aus mehreren Sätzen des positiven Völkerrechts.
Noch zehn Jahre nach Flucht und Vertreibung ermittelte 1956 eine Emnid-Umfrage bei 57 Prozent der Ostdeutschen die „bedingungslose“ Bereitschaft zur Rückkehr in die alte Heimat; weitere 22 Prozent knüpften diese Bereitschaft an bestimmte Bedingungen, womit zumeist andere politische Verhältnisse gemeint waren. Das bedeutete aber nichts anderes, als dass drei Viertel der Befragten die neue Heimat noch immer gerne gegen die alte eingetauscht hätten, und das obwohl die Integration unter den Vorzeichen des Wirtschaftswunders bereits kräftig voranschritt. 1958 gründeten einige Landsmannschaften sogar eigens eine „Arbeitsgemeinschaft für Rückkehrplanung“.
Das alles ist umso bemerkenswerter, als die Frage der Rückkehr der deutschen Vertriebenen schon damals das Problem aufwarf, dass in den um 1945 verlassenen Gebieten nunmehr oft Polen, Tschechen und andere lebten, die von den Regierungen ihrer Staaten gezielt dort angesiedelt worden waren. In dem - auch bei diesem Thema keineswegs „revanchistischen“ - Bund der Vertriebenen setzte sich deshalb in den 1960er Jahren die Überzeugung durch, dass eine neuerliche Vertreibung von nunmehr in den Vertreibungsgebieten lebenden Menschen kein Ziel deutscher Politik sein dürfe. Der Raum solle vielmehr nach Rückkehr jener Deutschen, die das wünschten, in einer europäischen Friedensordnung der Zukunft gemeinsam bewohnt werden. In einigen der fraglichen Regionen war dies ohnehin schon vor 1945 der Fall gewesen.
Vergleicht man diese historischen Entwicklungen mit dem aktuellen Geschehen, so fällt ins Auge: Die Rückkehr syrischer oder irakischer Flüchtlinge nach dem Ende der Kriegshandlungen wäre insofern leichter, als in deren Heimat bislang eben nicht systematisch andere Menschen angesiedelt worden sind. Das ist ein gravierender Unterschied. Offensichtlich ist aber auch, dass den Flüchtlingen der in aller Regel vorhandene natürliche Rückkehrwunsch von der Aufnahmegesellschaft nicht ausgeredet werden darf, indem diese fast ausschließlich von dauerhafter Integration spricht. Ganz im Gegenteil: Der Wunsch nach Rückkehr sollte vom Gaststaat nach Kräften gefördert werden, weil ein Wiederaufbau der - dann ehemaligen - Kriegsgebiete ohne einen großen und agilen Teil der dort sozialisierten Menschen schwer möglich sein wird.
Unabhängig davon muss kurz- und mittelfristig alles für eine gute Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland, in ganz Europa und vor allem in den unmittelbaren Nachbarländern der Krisenstaaten getan werden. Doch sollte die Fürsorge - auch mit der Möglichkeit des Erwerbs von Bildungsabschlüssen und beruflichen Qualifikationen - vor allem als Voraussetzung für eine erfolgreiche Rückkehr verstanden werden. Arbeitsgemeinschaften für Rückkehrplanung wären heute also aktueller denn je! Dazu müsste sich ein Teil der bundesdeutschen Gesellschaft allerdings von der Lebenslüge verabschieden, qua Asylrecht und Genfer Flüchtlingskonvention - statt mit vernunftgeleiteter gezielter Einwanderungspolitik - das demographische Desaster der Bundesrepublik abwenden oder zumindest wesentlich abmildern zu können. Und es müsste die Einsicht wachsen, dass es nichts mit Humanität zu tun hat, aus - wohl sogar nur vermeintlich - eigennützigen Motiven einem späteren Wiederaufbau der heutigen Kriegsgebiete die wichtigsten personellen Kräfte dauerhaft zu entziehen.
Hinzu kommt, dass selbst die „primären“ Formen von Flüchtlingsschutz zunächst nur ein Aufenthaltsrecht von drei Jahren gewähren. Es wird im Fall eines Fortdauerns des Krieges zu verlängern sein. Dann aber gilt nach den Richtlinien des UNHCR, dass es keine Verpflichtung der aufnehmenden Staaten gibt, Personen auf Dauer Asyl zu gewähren, bei denen „die Grundlage für ihren Flüchtlingsstatus nicht mehr besteht“. Für eine andere Politik gibt es gerade auch vor dem deutschen Erfahrungshintergrund mit zwölf Millionen Heimatvertriebenen nach 1945 keinen Anlass. Der Blick auf ihre Geschichte zeigt vielmehr, dass Migranten, die ihr Land nicht aus wirtschaftlichen Motiven verlassen haben, oft noch zehn bis 15 Jahre später an einer Rückkehr interessiert sind. Es würde zudem die deutsche Flüchtlingsdebatte um Kontingente und Obergrenzen beruhigen, wenn sich Konsens darüber herstellen ließe, dass es derzeit um humanitäre Nothilfe für einen Übergangszeitraum geht, nicht aber um den Beginn einer regellosen Masseneinwanderung auf Dauer.
Die deutschen Vertriebenen sind jahrzehntelang
dafür beschimpft worden, dass sie am „Recht auf die Heimat“ festhielten. Erst
lange nachdem eine Rückkehr für die alt gewordenen Deutschen aus dem Osten
faktisch kein Thema mehr war, kam es bei der Beendigung eines ganz anderen
Konflikts in Exjugoslawien 1995 zu einem völkerrechtlichen Durchbruch: Im
Vertrag von Dayton einigten sich Bosnien-Hercegovina, Serbien und Kroatien unter
amerikanisch-europäischer Patenschaft darauf, den Flüchtlingen des
Bosnien-Krieges die Rückkehr zu ermöglichen. Davon haben bei weitem nicht alle,
aber doch erfreulich viele Gebrauch machen können. Es wäre ein schlimmer
Rückschritt, wenn in den Konflikten der Gegenwart in Vergessenheit geriete, wie
kostbar das Recht von Flüchtlingen und Vertriebenen ist, wieder in ihre Heimat
zurückkehren zu können.
Quelle: |
|